Die Ungarndeutschen sind entweder Vertriebene – oder Verbliebene. Für die Belange der Ersteren tritt hierzulande die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn (LDU) ein. In der alten Heimat vertritt der Schwesternverband, die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LDU), die Interessen dieser Minderheit in Ungarn. Bei der jüngsten Kulturtagung in Gerlingen, der Patenstadt der Ungarndeutschen, ist dem Bundes- und Landesgeschäftsführer der LDU, Erich Gscheidle, für sein besonderes Engagement das Ehrenzeichen der LDU Baden-Württemberg in Gold verliehen worden.
Bei der Tagung mit dem Titel „Geschichte bewegt – auch uns“ ging es um die ungarndeutsche Vergangenheit aus Sicht der nächsten Generation. „Die Veranstaltung hat gezeigt, dass diese dramatischen Ereignisse der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn in den Jahren 1946 bis 1948 auch heute noch das Leben zahlreicher Menschen in beiden Ländern prägt“, sagt Erich Gscheidle im Rückblick.
„Freundschaft kennt keine Grenzen“
Vor diesem Hintergrund sehe sich die Landsmannschaft als Brückenbauer und in dieser Funktion als eine Fürsprecherin der Völkerverständigung, sagt der ehemalige Leiter des Gerlinger Hauptamtes. „Freundschaft kennt keine Grenzen, und diese ist in zahlreichen Treffen und Begegnungen, die jedes Mal Herzenslust geschaffen haben, im Laufe der Jahre gewachsen“, ist Gscheidle überzeugt. Er hat das LDU-Amt 2012 mit seinem Eintritt in den Ruhestand übernommen.
Dem sind viele Brückenschläge vorausgegangen, ist doch Gerlingen seit 1969 die Patenstadt der Ungarndeutschen. Was die jeweils amtierenden Bürgermeister zum „Patenonkel“ macht. Bereits im Jahr darauf fand hier die erste Kulturtagung statt – eine Veranstaltungsreihe, die lediglich von Corona unterbrochen wurde. Seit 1976 ist Gerlingen auch die Gastgeberin des Bundesschwabenballs, das bisher 69-mal stattgefunden hat. Davor fand die bundesweit größte Veranstaltung der Ungarndeutschen in Ludwigsburg statt.
Noch bevor der Eiserne Vorhang fiel, wurde 1987 der Kontakt mit Tata in Ungarn aufgebaut, das neben Vesoul in Frankreich und Seaham in England zu den drei Partnerstädten Gerlingens zählt. Nicht zuletzt sind in dem aufstrebenden kleinen Gerlingen in den Nachkriegsjahren von den etwa 3000 Einwohnern fast 1000 vertriebene Ungarndeutsche gewesen.
Erich Gscheidle ist enttäuscht: „Niemand von den Schulen hat sich gezeigt, auch nicht vom Jugendgemeinderat.“ Foto: Simon Granville
Für die diesjährige Tagung hatten die Veranstalter sehr junge Referenten gefunden. Es sind Ur- und Ururenkel der von der Vertreibung und Deportation Betroffenen. „Während die Kinder der Vertriebenen sich für die Thematik kaum interessierten, ist bei der jungen Generation das Bedürfnis, mehr darüber zu wissen, sehr groß“, sagt Gscheidle. Das gehe darauf zurück, dass seinerzeit in den Familien kaum über die Ereignisse gesprochen wurde. „Man wollte die Kinder nicht mit dem Trauma belasten.“
Jan Ament, 17: Es ist ein Teil meiner Familiengeschichte
„Ich fand das deshalb so spannend, weil ich bisher nur wenig über das Thema gewusst habe, es aber ein Teil meiner eigenen Familiengeschichte ist“, sagt der 17-jährige Jan Ament über die Beweggründe, sich mit der Vertreibung auseinanderzusetzen. Er hat zum Thema „Menschen, Minderheiten, Migrationen“ über die Auswanderungen im 18. Jahrhundert am Beispiel der Donauschwaben referiert. Die Urgroßeltern väterlicherseits wurden vertrieben, die mütterlicherseits sind in Ungarn verblieben.
„Auch nach so langer Zeit, denn 2026 jährt sich zum 80. Mal der Beginn der Vertreibung, schwingt immer noch eine große Trauer und eine Zerrissenheit mit“, hat Erich Gscheidle den Vorträgen der Jugendlichen entnommen. Besonders in dem von Leana Magdalena Becker wird das deutlich. Sie hat sich mit dem Thema „Die Vertreibung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“ beschäftigt und die Auswirkungen auf die Betroffenen und ihre Nachfahren. Sie ist 17, wohnt in Taunusstein, und ist Urenkelin einer heimatvertriebenen ungarndeutschen Familie.
Ein Auszug aus ihrem Referat: „Es ist schwer, wenn man an einem anderen Ort wohnt als sein Herz. Mein Leben lang wohne ich hier, im selben Haus mit denselben Menschen. Aber immer, wenn wir von Ungarn reden, überkommen mich Sehnsucht und ab und zu auch Heimweh. Ich freue mich auf die Sommerferien, wenn wir nach Ungarn fahren, nicht in den Urlaub, sondern nach Hause, denn es schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Ich bin eine Ungarndeutsche.“
„Dieses Kapitel der deutschen Geschichte wird in der Schule nicht behandelt“
Ein lange verschwiegenes Kapitel in der Geschichte der Ungarndeutschen hat Lena Virth aufgegriffen. Unter dem Titel „Die Räder rattern. Dawei, nur dawei!“ (dawei – russisch: „los, los, schneller!“) sprach sie über die Deportation Zehntausender Ungarndeutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Sie ist 16 Jahre alt und wohnt in Pécs (Ungarn). Als Kind einer heimatverbliebenen ungarndeutschen Familie hat sie das Thema am Schicksal ihrer Ururgroßmutter aufgearbeitet. „Persönlich habe ich sie nicht gekannt, es wird aber in unserer Familie viel über sie gesprochen, sodass ich das Gefühl habe, dass sie unter uns ist.“
„Niemand von den Schulen hat sich gezeigt, auch nicht vom Jugendgemeinderat“
Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren zur Jahreswende 1944/1945 etwa 32 000 arbeitsfähige Ungarndeutsche, meist Frauen, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert worden. Etwa 9000 starben in den russischen Arbeitslagern. Lange Jahre haben die Betroffenen über diese Zeit geschwiegen. „Nur einige, instinktiv gesprochen Sätze zeugen von ihrem Leid, wie der Satz meiner Ururgroßmutter an meine Oma, wenn die etwas nicht essen wollte: ‚Du würdest das schon essen, wenn du in Russland wärst’“, berichtet die Jugendliche aus Erzählungen in der Familie.
„Mit der Tagung und den jungen Referenten wollten wir einen Impuls geben, damit sich auch Jugendliche dafür interessieren, wird doch dieses Kapitel der deutschen Geschichte in der Schule nicht behandelt“, sagt Erich Gscheidle. Doch es schwingt Enttäuschung mit: „Niemand von den Schulen hat sich gezeigt, auch nicht vom Jugendgemeinderat.“