Am Ende Jubel des Premierenpublikums: Die Intention von „Cyrano de Bergerac“ des Engländers Martin Crimp frei nach Edmond Rostand ist aufgegangen. Das alte Mantel- und Degen-Stück wurde ins 21. Jahrhundert katapultiert. Aus dem Wettstreit von Poesie und äußerer Schönheit wurde eine Battle mit Rap und Hip-Hop-Versen.
Die Inszenierung von Sebastian Sommer setzt stark auf Musik, das Bühnengeschehen wird immer wieder durch schwarze Cuts mit Rap vom Band unterbrochen. Alexander Grüner hat für die Bühne einen Schaukasten geschaffen, von einem Lichtband umrandet. Was wie ein Bildschirm wirkt, schafft einen flachen Raum mit einer Wand aus Spinden – halb Fitness-Studio, halb Kaserne, mal Sauna, mal Türchen für überraschende Auftritte. Wicke Naujoks hat die fünf Schauspieler und zwei Schauspielerinnen in metallisch glänzende Kostüme gesteckt, genauso ironisch gebrochen wie etwa die Ballon-Hunde-Objekte eines Jeff Koons.
Der äußere Schein, der künstliche Glanz, das Imponieren in der Schlacht um Liebe zieht sich durch die gesamte Aufführung. Diese Neuinterpretation erreicht auch die Digital Natives. Die sozialen Medien haben eine künstliche Welt der Inszenierung geschaffen, kann Sprache dagegen Authentizität versprechen? Das Stück stellt die Frage „Books or Lashes“, Bücher oder Wimpern.
Der starke, lange Applaus ist überaus verdient. Die Schauspielenden sind mit viel Spielfreude dabei – auch wenn das wieder wie ein Klischee klingt. Aber temporeich und ironisch gebrochen bietet ihnen das Stück jede Menge Gelegenheiten, ihre Rollen zu formen.
Das Grundgerüst vom alten Edmond Rostand mit seinem Cyrano von 1897 ist geblieben. Cyrano kann nicht nur mit dem Degen umgehen, sondern hat auch Sprachwitz und Poesie. Doch weil er mit einer übergroßen Nase geschlagen ist, traut er sich nicht, Roxane seine Liebe zu gestehen. Als Roxane sich in den schönen Christian verliebt, schreibt er im Namen seines Kameraden Liebesbriefe an Roxane. Als sich mit De Guiche ein Dritter in Roxane verliebt, schickt er als Kommandant die beiden Konkurrenten als Soldaten an die Front. Dabei kommt Christian ums Leben. Doch auch als später Roxane erfährt, wer wirklich die Briefe geschrieben hat, ist es zu spät. Cyrano stirbt an den Folgen eines Kampfes, seine letzte Battle verliert er. Mehrmals hebt er an, doch das letzte Wort bleibt dem Helden der Geschichte verwehrt.
Benjamin Schardt ist ein wundervoller Cyrano. Ihm nimmt man den Haudegen ebenso ab wie den sensiblen Sprachjongleur. Simon Rußig bleibt als schöner Christian dabei stets in seinem Schatten. Katrin Hauptmann spielt die Roxane als selbstbewusste Frau von heute. Ihnen gelingt es, die etwas kitschige Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts nüchtern frisch und neu zu erzählen. Dabei ist das Thema überhaupt nicht verstaubt. Auch auf Instagram und TikTok geht es um Inszenierungen, um Selbst- und Fremdbilder, um Aufhübschen und Verfremden. Ganz aktuell stellt ja auch der Hype um künstliche Wimpern das Schönheitsideal der Frau zur Diskussion. Gibt es einen Roll-back zu alten Mustern? Ist das Alte keineswegs ausgemustert?
Die Aufführung stößt Fragen wie diese an, ohne sie zu beantworten. Sommers Inszenierung gibt Raum für Interpretation. Gerade die Möglichkeiten in Crimps Stück erklären auch, warum es an deutschen Bühnen rauf- und runtergespielt wird. Man muss nicht gleich Cyrano mit einer Schauspielerin besetzen wie am Mönchengladbacher Theater.
Die fluide Geschlechterdiskussion von heute wird in Neuss viel witziger thematisiert: Zu Beginn stehen drei Schauspieler und eine Schauspielerin (Vera Hannah Schmidtke als Bäckersfrau Leila Ragueneau) an der Rampe und urinieren im Stehen (mit sichtbaren Wassertanks auf dem Rücken).
Martin Crimp hat Rostand wunderbar wiederbelebt und der Theaterwelt ein Stück beschert, das aktuelle Probleme an alten Mustern behandelt. Sebastian Sommer hat eine temporeiche und pfiffige Inszenierung hinbekommen, die den Schauspielern Raum lässt, sich zu entfalten. Ob aber die Sprache über den Schein gewinnt, lässt sich am Ende nicht klar beantworten.