Vermutlich kann er sich ein besserer Leben vorstellen – das Projekt Housing First will Obdachlose in Esslingen ein eigens Dach über dem Kopf verschaffen. Foto: Imago/Michael Gstettenbauer
Die Stadt Esslingen will mit dem Projekt Housing First Obdachlosen eine Wohnung ohne Bedingungen vermitteln. Erfahrungen in anderen Städten sind mit dem Projekt positiv.
Noch so ein bescheuerter Anglizismus? Na klar. Housing First. Immerhin einer, der seine Message straight auf den Point bringt: Erst die Wohnung, dann weitere Hilfe. Das richtet sich an obdachlose Menschen in Esslingen, denen die herkömmliche soziale Unterstützung allerlei nützliche Dinge wie Alkoholtherapien, Schuldnerberatung oder Jobvermittlung anbietet, damit sie am Ende eine Wohnung mieten können – die sie auf dem hart umkämpften Esslinger Mietmarkt dann doch nicht kriegen.
Das Projekt Housing First, seit Anfang 2024 in Esslingen am Start, dreht das Verfahren um: Obdachlose – so die Idee – bekommen bedingungslos eine Wohnung zur Miete, müssen sich auch nach dem Einzug zu keinen Therapie- oder sonstigen Maßnahmen verpflichten. Hilfe wird nur erteilt nach dem Prinzip strikter Freiwilligkeit. Einzige Voraussetzung: „Die Mietzahlungen müssen gesichert sein“, sagt die Esslinger Projektleiterin Tina von Rasch – durch Sozialleistungen, eigenes Einkommen oder beides.
Sozialarbeiterin spricht von „stabilisierender Funktion“, die sehr gut klappe
Funktioniert das? Sehr gut, war bei einer Zwischenbilanz zu hören. Die Sozialarbeiterin Nicole Haag geht von einer Initialzündung positiver Wirkungen aus, ist das Menschenrecht auf ein eigenes Dach über dem Kopf erst einmal verwirklicht: „Das eigene Zuhause hat stabilisierende Funktion.“ In den Notunterkünften hingegen führten Gruppeneffekte und das Fehlen jeder Privatsphäre zu abnehmender Eigeninitiative und oft zu zunehmendem Alkoholkonsum.
Nicht mehr Ärger als mit „normalen“ Mietern
Aber kommt es in der eigenen Wohnung nicht erst recht zu Konflikten, Randale, Vollsuff? Kann passieren. Aber nicht häufiger als bei „ganz normalen bürgerlichen Mietverhältnissen“, sagt Axel Glühmann, zuständiger Abteilungsleiter bei der Evangelischen Gesellschaft (Eva), einer der Esslinger Projektpartnerinnen neben der Stadt, der Fachberatungsstelle Esslingen und dem Verein Heimstatt. Im Übrigen weist Carolin Bischoff, Leiterin der städtischen Abteilung für Soziale Beratung und Betreuung, die Reduzierung der „multiplen Problemsituation“ obdachloser Menschen auf das Suchtthema zurück: „Es geht da oft auch um Schulden, familiäre Zerrüttung oder Arbeitslosigkeit.“
In den fünf Esslinger Wohnungen, die bislang vermittelt wurden – drei an Einzelpersonen, zwei an Familien –, gab es weder Ärger mit Nachbarn noch andere Probleme, sagt Fabian Schütz vom Wohnungsunternehmen Vonovia, dem die Immobilien gehören. Zwei weitere Wohnungen hat die Vonovia ab Dezember und Januar zugesagt. Gleichwohl ist der Erfahrungshorizont in Esslingen noch eng. Aber in den USA, wo Housing First entwickelt wurde, in Finnland und in einigen deutschen Großstädten sind die Resultate überzeugend. In Finnland sogar so überzeugend, dass alle anderen Obdachloseneinrichtungen geschlossen werden konnten, berichtet Glühmann.
Für obdachlose Menschen ist es auf dem hart umkämpften Esslinger Mietmarkt besonders schwer, eine Wohnung zu finden. Foto: dpa
In Deutschland wird das so schnell nicht passieren. Selbst wenn das Esslinger Projekt sein Ziel – 15 Wohnungen bis Ende 2026 – erreicht, stehen ihm derzeit 678 Personen, davon 470 Angehörige obdachloser Familien, in Esslinger Notunterkünften gegenüber, teilt Sozialamtsleiter Marius Osswald mit. Hinzu kommen Menschen, die auf der Straße leben oder zur sogenannten verdeckten Obdachlosigkeit zählen, weil sie ohne festen Wohnsitz bei guten oder weniger guten Bekannten unterkommen, mal für ein paar Nächte, mal länger.
Private Vermieter dringend gesucht
Für Housing First kommen nur Obdachlose in Betracht, die ihren Lebensmittelpunkt in Esslingen haben. Ein Magneteffekt wäre laut Sozialarbeiterin Haag eher unwahrscheinlich. Ihr zufolge ist die romantische Vorstellung vom Tramp, der durch die Lande zieht, längst passé. Vielmehr herrsche längst das Phänomen einer „Sesshaftigkeit in der Obdachlosigkeit: Auch wenn die Leute auf der Straße kampieren, halten sie sich teils jahrelang an einem Ort auf.“ Housing First steht und fällt selbstverständlich mit der Zahl verfügbarer Wohnungen. Vor allem bezahlbare Single- und barrierefreie Wohneinheiten sind Mangelware. Der städtische Wohnungsscout Maximilian Wezel sondiert den Markt, ist neben der Vonovia im Gespräch mit weiteren Wohnbaugesellschaften, hofft aber auch auf Privatvermieter, die sich für das Projekt erwärmen.
Denn natürlich sind die angestrebten 15 Wohnungen kein absolutes Limit – wenn Housing First nach Ende des Förderzeitraums am 31. Dezember 2026 fortgeführt wird. Bis dahin, sagt Amtsleiter Osswald, steuern das Land und die Vector Stiftung, eine Stuttgarter Firmenstiftung, insgesamt 265 000 Euro zur Finanzierung bei. Die Stadt muss nur 26 500 Euro drauflegen. Von 2027 an müsste sie Gesamtkosten von jährlich 80.500 Euro tragen. Ende 2026 entscheidet der Gemeinderat über eine Fortsetzung.