2015: Zwei Polizisten im leeren Stadion von Hannover 96

Stand: 17.11.2025 09:22 Uhr

Als Terroristen vor zehn Jahren in Paris 130 Menschen ermordeten, spielte Deutschland Fußball gegen Frankreich. Ein Anschlag im Stade de France wurde vereitelt – das Trauma des Erlebten aber blieb. Warum vier Tage später in Hannover das geplante Freundschaftsspiel gegen die Niederlande kurzfristig abgesagt wurde, beleuchtet eine neue ARD-Doku.

von Andreas Bellinger

Der laute, dumpfe Knall schreckte alle auf. Es war die 17. Minute des Fußball-Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland. Doch noch ahnte an diesem 13. November 2015 niemand, welcher Schrecken sich in Paris und vor den Toren des Stade de France zutragen würde. Weder die 80.000 Zuschauer im Stadion noch die Millionen an den TV-Schirmen – und auch die Akteure auf dem Feld nicht, die verunsichert zwar, aber tapfer weiterspielten.

Nationalmannschaft im Visier

Bis es kurz darauf ein zweites Mal krachte, noch heftiger, noch bedrohlicher. Joachim Löw, der Weltmeister-Trainer, erinnert sich daran, wie er zurück zur Bank ging, wie sich alle anschauten und dachten: „Das war fast zu laut für irgendeinen normalen Böller.“

Bastian Schweinsteiger und Jogi Löw vor einem Fussballstadion in Abendstimmung mit erleuchteten Eiffelturm im Hintergrund.

In der ARD-Dokumentation „Terror. Paris. 2015 – Die Nationalmannschaft im Visier“ spricht auch Kapitän Bastian Schweinsteiger („Du denkst, du gehst zu einem der besten Spiele in Europa – und am Ende war es der schwärzeste Tag“) über den Horror, der vier Tage später nach neuerlichen Terror-Drohungen zur Absage des Freundschafts-Länderspiels gegen die Niederlande in Hannover führte.

Horror in Bars, Restaurants und im Bataclan

Islamisten ermordeten in jener Freitag-Nacht in Bars und Restaurants der französischen Hauptstadt 130 Menschen, streckten sie mit Sturmgewehren nieder. 89 Tote allein im Konzertsaal Bataclan; es gab 350 Verletzte. Auch die Arena in der Vorstadt Saint-Denis sollte zur Szenerie unfassbarer Brutalität werden.

Vor aller Augen wollten die Selbstmordattentäter Horror und Panik erzeugen, Zuschauer und Spieler mit in den Tod nehmen. Eine grauenvolle Vorstellung. Als ihnen Ordner den Zugang erfolgreich verweigerten, zündeten sie ihre Bomben vor dem Stadion.

Alarmstufe rot in Hannover

„Das ist ein Ereignis, das mich für immer prägen wird“, sagt Bundepräsident Frank-Walter Steinmeier, der damals als Außenminister auf der Ehrentribüne des Stadions saß. „Der Vergleich mit 9/11 ist mir auch viele Male gekommen.“ Der Schock und die verstörenden Bilder aus Paris alarmierten die Sicherheitskräfte in Hannover, die befürchten mussten, dass die Terroristen nur vier Tage später die „große Bühne“ im Stadion am Maschsee nutzen könnten. „Kann so etwas auch bei uns passieren?“, stellte Uwe Kolmey, Direktor des niedersächsischen Landeskriminalamts, die entscheidende Frage. Und die Antwort hieß: „Ja!“

SEK-Polizist: „Wir waren vorbereitet“

Trotzdem wurde alles unternommen, um das Spiel stattfinden zu lassen. „Wir waren vorbereitet“, sagt SEK-Polizist Michael, der nur mit seinem Vornamen genannt werden will. Die Nationalmannschaft hatte die Horror-Nacht in den Katakomben des Stade de France verbracht und war frühmorgens zum Flughafen aufgebrochen. Von Hilflosigkeit erzählt Löw – und wie er sich bemüht habe, beruhigend auf die Spieler einzuwirken: „Die Angst saß uns schon im Nacken.“

Löw: „Hat schon was mit uns gemacht“

„Dadurch, dass man bei der Nationalmannschaft in so einer Bubble ist, hatte man eigentlich das Gefühl, dass nie was passieren kann“, sagt Andre Schürrle, der Weltmeister und 47-fache Nationalspieler. Ein Trugschluss. Und die Aussicht schon vier Tage später in Hannover wieder zu spielen, habe es nicht besser gemacht. Sollten sie einfach so tun, als sei nichts gewesen?

Die Mannschaft war nach den quälenden Stunden nicht mehr dieselbe. „Das hat schon was mit uns gemacht. Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, dass wir alle nicht unbedingt dieses Spiel gegen Holland machen wollten“, so Bundestrainer Löw, der seine Spieler übers Wochenende „zum Durchatmen bei den Liebsten“ (Teammanager Oliver Bierhoff) außerplanmäßig nach Hause geschickt hatte.

Schürrle: „Nur gehofft, dass abgesagt wird“

Wie auch zur Tagesordnung übergehen? „Die ganzen zwei Tage habe ich eigentlich nur gehofft, dass dieses Spiel abgesagt wird“, berichtet Schürrle. Der damalige Torhüter von Hannover 96, Ron-Robert Zieler, berichtet von einem „totalen Gefühlschaos“. Und Kevin Trapp ergänzt: „Ich glaube, man hat es einfach so über sich ergehen lassen.“

2015: Polizisten bewachen das Stadion von Hannover 96

Bewaffnete Polizei-Einheiten sperren das Stadion ab.

Aber der Keeper, der nach seinem Wechsel zu Paris Saint-Germain gerade angefangen hatte, sich in der Welt-Metropole einzuleben, betont auch: „Im Endeffekt ist es unmöglich, nach dem, was man erlebt und gesehen hat, gleich wieder zu spielen.“ Bülent Aksen, der damals im Deutschen Fußball-Bund (DFB) als Fanbeauftragter wirkte, glaubt auch mit zehn Jahren Abstand weiterhin, „dass es eine politische Entscheidung war, zu spielen“.

Tatsächlich hatte Löw am Sonntagvormittag einen Anruf bekommen, „von sehr hoher Stelle unserer Regierung“. Man habe ihm nahegelegt zu spielen. „Wir lassen uns vom Terrorismus auf keinen Fall in die Knie zwingen“, sei die Vorgabe gewesen. Kanzlerin Angela Merkel werde auch nach Hannover kommen.

Absage 90 Minuten vor dem Anpfiff

Brisant wurde es schließlich am Spieltag. Gegen Mittag gab es Hinweise vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), offenbar nach Informationen des israelischen Geheimdienstes, dass auch Hannover Zielscheibe von islamistischem Terror werden könnte. Ein konkretes Anschlagsszenario wurde beschrieben, laut dem fünf Attentäter innerhalb und außerhalb des Stadions Sprengladungen zünden wollten.

Der damalige Innenminister Thomas de Maizière, der weder bagatellisieren noch dramatisieren wollte, stellte sich derweil den Fragen der Journalisten – und verstieg sich „aus der Not“ in der Aussage: „Verstehen sie bitte, dass ich keine Antwort geben möchte. Warum? Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Die ganze Nachricht des BfV, die kurz nach 19 Uhr schließlich zur Absage des Länderspiels führte, ist bis heute als Verschlusssache gekennzeichnet.

Teampsychologe Hermann: Traumatische Situationen wirken nach

Die deutsche Nationalmannschaft, die sich auf dem Weg ins Stadion befand, musste umdrehen. Das niederländische Team reiste sofort in die Heimat zurück. „Für solche dramatischen, traumatischen Situationen ist es nicht selten so, dass erst im Nachhinein alles zusammengebastelt wird im Kopf und dann auch Emotionen nachfolgen“, sagt Teampsychologe Hans-Dieter Hermann. Er bat die Spieler, sich zu melden, wenn so etwas vorkommt. „Das haben ein paar auch gemacht.“

Spezialeinheiten durchsuchen Stadion

Im Stadion war es eher still. Hubschrauber kreisten über der Stadt. Immer mehr schwer bewaffnete Polizisten und Spezialeinheiten trafen ein, durchsuchten mit Sprengstoffspürhunden jeden Winkel. Auch Bombenentschärfer waren dabei.

NDR Reporter Alexander Bleick harrte derweil in seiner Kabine aus und versorgte die ARD-Sender mit Informationen und Eindrücken. „Ich habe mich unter den Tisch gesetzt, damit mich keiner sehen kann“, erzählt er und so ganz wohl ist ihm dabei heute nicht mehr. Er flog schließlich auf und wurde von einem kräftigen Polizisten und dessen Schäferhund (mit Maulkorb) „abgeführt“.

Landesregierung: „Verfahren wurde eingestellt“

Der Ausnahmezustand in Hannover dauerte bis zum nächsten Morgen. Dann kam die ersehnte Entwarnung: keine Bombe im Stadion, keine versteckten Sprengsätze in der Stadt. Nichts Auffälliges auch am Hauptbahnhof, der als weiterer Anschlagsort gegolten hatte. Festnahmen habe es nicht gegeben, heißt es.

Zudem teilte die niedersächsische Landesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage im Mai 2018 mit: „Das zunächst von der Staatsanwaltschaft Hannover geführte und dann vom Generalbundesanwalt (GBA) übernommene Verfahren wurde eingestellt.“

Eine Graphic Novel Zeichnung von Oli Monn. Sie zeigt einen Teil der deutschen Nationalmannschaft in der Kabine im Stade de France, nachdem sie von den Terroranschlägen in Paris und vor dem Stadion 2015 erfahren haben. In der Kabine war auch Wolfgang Bunz aus Ulm dabei.

13. November 2015. Eine Welle des Terrors erschüttert Paris, auch vor den Toren des Stade de France. Mitten im Länderspiel Frankreich gegen Deutschland. Es wird einer der dunkelsten Nächte Frankreichs und des europäischen Fußballs.