Wer an Pippi Langstrumpf denkt, hat oft das Mädchen Inger Nilsson vor Augen. Ende der Sechzigerjahre spielte sie in der Verfilmung der Kinderromane von Astrid Lindgren die Hauptrolle, die Filme sind Kult, auch heute noch. In München dürfte nun eine Zeit lang eine Verschiebung stattfinden: Im Residenztheater feierte am Wochenende „Pippi Langstrumpf“ Premiere, die Titelrolle spielt Liliane Amuat. Wer nach der etwa 80-minütigen Vorstellung aus dem Theater geht, wird nicht nur verzaubert sein, sondern bei Pippi Langstrumpf in erster Linie an Liliane Amuat denken. Beglückt und vollkommen zu Recht.
Daniela Kranz hat den Klassiker inszeniert. Endlich wieder ein Kinderstück im großen Haus! Wobei diese „Pippi Langstrumpf“ auch Erwachsene zu begeistern vermag, so lustig, fantasievoll, behutsam modernisiert und leicht durchgeknallt diese Produktion ist. Die Regisseurin vertraut vollkommen auf die Kraft und die Mittel des Theaters, ohne Vorlagen anderer Genres entsprechen zu wollen oder sich genötigt zu sehen, Kinder auf die Bühne zu stellen. Wozu auch, auf der Bühne kann jeder alles sein. Und dieses Konzept geht komplett auf.
Fast genau vor 80 Jahren, am 26. November 1945, wurde das Kinderbuch „Pippi Langstrumpf“ zum ersten Mal veröffentlicht. Astrid Lindgren erfand am Krankenbett ihrer Tochter das neunjährige Mädchen mit den roten Zöpfen, Sommersprossen, den großen Schuhen, zwei verschiedenen Strümpfen und dem Äffchen auf der Schulter, das stark, unabhängig, selbstbewusst, hilfsbereit, Spaß-getrieben und unkonventionell die Welt erlebt. Die Erwachsenen mit ihren vielen Regeln sehen im Vergleich dazu grau und fad aus.
Und so ist es auch im Residenztheater, Pippi Langstrumpf schafft sich hier ihre bunte Welt und besteht ihre Abenteuer. Viva Schudt hat dies im Bühnenbild schon angelegt, mit einem rot-weiß-geringelten Baum, einer Gewächshaus-ähnlichen Villa Kunterbunt, mit Schattenspiel-Projektionen oder auch einmal mit einem gelben Vorhang, der an mehreren Dutzend heliumbefüllten Luftballons hängt.
Viva Schudts Bühnenbild steckt voll schöner Erfindungen wie dieser Vorhang, der an Luftballons hängt. (Foto: Sandra Then)
An diesem Ort, an dem alles möglich scheint, taucht also Pippi Langstrumpf auf. Und zwar sehr fröhlich. „Ich zieh’ in meine Villa / und bleib’ hier mindestens für immer“, singt Amuat zum freundlichen Hip-Hop, den sich das Künstlerkollektiv „Club für Melodien“ ausgedacht hat. Natürlich hat sie abstehende rote Zöpfe, steckt in einem gelb-blau karierten Männerhemd, einem grünen und einem rosafarbenem Strumpf und großen schwarzen Schuhen (Kostüme: Gloria Brillowska).
Schon kommen die braven Nachbarskinder im sauberen Clean-Look vorbei. Elisabeth Nittka als Annika (sie sich mit Lina Fritzen in der Rolle abwechselt) und das neue Ensemblemitglied Dominikus Weileder als Tommy sind hier noch ganz die Heranwachsenden, die durch Erziehung in Verhaltensschablonen gepresst wurden. Doch ihre Sehnsucht nach Ausgelassenheit bricht sich im Verlauf immer mehr Bahn.
Bevor sie Pippi und ihrem Pferd begegnen, sind Annika (Elisabeth Nittka) und Tommy (Dominikus Weileder) noch ordentlich und sauber. (Foto: Sandra Then)
Dazu inspiriert sie natürlich Pippi. Liliane Amuat strahlt ihnen ihr Grübchen-Grinsen entgegen, so offen wie nur jemand sein kann, der die Furcht nicht kennt, etwas falsch zu machen. Warum immer an die Grenzen des Möglichen denken, wenn die Fantasie zu allem befreit? Genau davon erzählt diese Inszenierung. Ob etwas Ausgedachtes immer gleich eine Lüge sein muss? Die Drei fragen in ihrem Freundschaftslied durchaus zeitgemäß: „Wer sagt, was Wahrheit ist? / Die alten weißen Männer? / Sind das die Wahrheitskenner?“
Der Ton ist also rasch gesetzt, der Theaterzauber entfaltet. Erst recht natürlich, als Amuat auf einem Apfelschimmel auf die Bühne reitet. Tiere auf der Bühne lösen immer Entzückung aus, so auch hier. Regisseurin Kranz strapaziert das aber nicht. Dazu besteht auch keine Notwendigkeit, passiert doch eh’ allerhand Lustiges. So darf Barbara Melzl als Frau Prysselius herrlich übertrieben, schrill im Ton, verklemmt im Habitus, die spießige Dorfvorsitzende geben, die Pippi unbedingt unter die Aufsicht von Erwachsenen stellen will.
Barbara Melzl als Frau Prysselius ist herrlich übertrieben spießg. (Foto: Sandra Then)
Max Mayer (links) und Delschad Numan Khorschid haben nicht nur in der Rolle der Polizisten Spaß an der Komik. (Foto: Sandra Then)
Max Mayer und Delschad Numan Khorschid haben ebenfalls sichtlich Spaß an der Komik. Sie übernehmen jeweils mehrere Rollen. Wenn sie beispielsweise als Dorfpolizisten Kling und Klang Pippi inhaftieren wollen, wirken sie wie eine aktualisierte Version von Dick und Doof in Ton und Farbe. Es ist zum Brüllen lustig.
Dreh- und Angelpunkt ist aber Pippi. Liliane Amuat zeichnet sie beherzt und strahlend, lässt sie toben, singen, tanzen, kämpfen. Ihre Pippi fühlt mit anderen mit, ist auch einmal einsam, wenn sie abends vor ihrem Bettchen liegt und an ihre Mama im Himmel denkt. Amuat verleiht ihrer Figur auf feine Art viele Facetten. Aber auch, wenn Pippi einmal traurig ist, bleibt sie immer stark, lässt sich nicht unterkriegen. Sie ist eben eine Heldin. Und am Ende ist natürlich alles gut.
So feiert „Pippi Langstrumpf“ im Residenztheater die Fantasie. Denn, wie es im Abschluss-Song heißt, der das Publikum sehr fröhlich und beschwingt entlässt: „Wir bauen die Erde im Himmel / Und den Himmel auf Erden. / Wir bleiben ewig jung. / Niemand will erwachsen werden.“ Trallari trallahey tralla hoppsasa.