Im Ruhrgebiet schießen Polizisten auf eine Zwölfjährige – sie schwebt in Lebensgefahr. Ein Experte warnt davor, nur die offensichtlichste Frage zu stellen.

Nach einem oder mehreren Polizeischüssen auf eine Zwölfjährige in Bochum sind viele Fragen noch offen. Allen voran: Wer ist schuld? Das gehörlose Mädchen soll die Beamten mit zwei Messern bedroht haben – die schossen auf das Kind, einer mit einem Taser, einer mit der Dienstwaffe. Das Kind schwebt in Lebensgefahr.

Zuvor war das Mädchen aus einer Wohneinrichtung verschwunden, ohne ihre lebenswichtigen Medikamente einzunehmen. Die Beamten fanden die Zwölfjährige schließlich in der Wohnung der ebenfalls gehörlosen Mutter. Im Interview mit t-online äußert sich der Kriminologe Dirk Baier – aus seiner Sicht spielt vor allem ein Faktor in dem Fall eine wichtige Rolle.

t-online: Herr Baier, inwieweit ist dieser Fall außergewöhnlich?

Dirk Baier: Es handelt sich um einen einzigartigen Fall. Pro Jahr setzt die Polizei deutschlandweit etwa 100-mal Schusswaffen gegen Personen ein. Dabei sterben jährlich im Durchschnitt zehn Menschen. Ein Schusswaffengebrauch erfolgt dabei eher gegen männliche, erwachsene Personen. Dass so ein junges Mädchen angeschossen wurde, ist mir aus der Vergangenheit nicht bekannt.

Was könnte in dieser konkreten Situation schiefgelaufen sein?

Wie genau es in der Situation zum Schusswaffeneinsatz kam, müssen die nun folgenden Ermittlungen zeigen. Aus der Ferne lässt sich schwer diagnostizieren, was möglicherweise schiefgelaufen ist. Zu bedenken ist, dass sich alles in einer Wohnung abspielte, in der es weniger Möglichkeiten gibt, die Distanz zum Gegenüber einzuhalten. Man kann sich verstecken – für die Polizei fehlt also die Übersichtlichkeit. Solche Einsätze sind für Polizisten gefährlicher als viele andere.

Inwieweit spielt es eine Rolle, dass Mädchen und Mutter gehörlos sind?

Die Kommunikation mit Mutter und Kind war aufgrund der Gehörlosigkeit eingeschränkt. Polizistinnen und Polizisten sind gewohnt, viele Situationen sprachlich zu deeskalieren. Ich denke aber, dass die Gehörlosigkeit allein nicht die einzige Erklärung für die Eskalation darstellt. Fraglich ist etwa, inwieweit aufseiten von Mutter und Tochter auch psychische Auffälligkeiten eine Rolle gespielt haben. Diese können dazu führen, dass man sich schneller angegriffen oder verfolgt fühlt und dadurch schneller ängstlich ist.

Haben die Polizisten Ihrer Ansicht nach korrekt gehandelt?

Das ist aktuell nicht seriös zu beantworten. Mir wäre aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch vor dem Hintergrund eines solch schrecklichen Ereignisses den Polizistinnen und Polizisten nicht sofort unterstellt werden sollte, dass sie einen Fehler gemacht oder überreagiert hätten. Solche Einsätze in Wohnungen bergen immer ein erhöhtes Risiko, dass Polizisten selbst zu Opfern werden können. Und in dem Fall scheint es so, als habe das Risiko objektiv tatsächlich bestanden, wenn ein Mädchen mit Messern auf die Beamten losgeht.