Wolfram Weimer, Peter Wollny und Burkhard Jung mit Noten von Johann Sebastian Bach.

Stand: 17.11.2025 18:21 Uhr

275 Jahre nach dem Tod von Johann Sebastian Bach sind zwei bislang unbekannte Frühwerke des Komponisten präsentiert worden. Die Orgelkompositionen wurden in der Leipziger Thomaskirche aufgeführt.

Nach jahrzehntelanger Forschung hat das Bach-Archiv Leipzig zwei bislang nicht zugeordnete Orgelstücke als Frühwerke Johann Sebastian Bachs identifiziert. Der Musikwissenschaftler und Archivdirektor Peter Wollny ordnete die beiden Chaconnen in d-Moll und g-Moll dem damals 18-jährigen Bach zu – mehr als 30 Jahre, nachdem Wollny die Schriften erstmals entdeckt hatte, wie das Archiv bekanntgab.

Der Autor der Schriften war demnach mehr als 320 Jahre lang unbekannt geblieben. Nun wurden die Stücke in Bachs einstiger Wirkungsstätte, der Leipziger Thomaskirche, zum ersten Mal seit der Entdeckung aufgeführt. „Lange habe ich nach dem fehlenden Puzzlestück für die Zuordnung der Kompositionen gesucht – jetzt offenbart sich das ganze Bild“, sagte Wollny.

Spur führte zu kaum bekanntem Bach-Schüler

Die entscheidenden Handschriften habe er bereits Anfang der 1990er-Jahre in der Königlichen Bibliothek in Brüssel entdeckt. Die Wasserzeichen des Papiers und die Schriftart hätten auf Mitteldeutschland um das Jahr 1700 hingewiesen.

Rund 20 Jahre später habe er erste Hinweise auf Salomon Günther John als Kopisten erhalten. Dieser habe sich 1727 auf eine Stelle im ostthüringischen Schleiz beworben und sich in dieser Bewerbung als Schüler Bachs bezeichnet. Erst im vergangenen Jahr konnte Wollny frühe Handschriften Johns einsehen und dessen Abschriften Bachs Arnstädter Frühzeit zuordnen.

Auch musikalisch verweist laut Wollny ein Stilvergleich auf Bach, der von 1685 bis 1750. In beiden Chaconnen fänden sich kompositorische Fingerabdrücke, die in dieser Zeit für ihn einzigartig gewesen seien. Seine Sicherheit liege inzwischen bei „99,9 Prozent“, so Wollny.

Von 1723 bis 1750 arbeitete Bach als Thomaskantor in Leipzig. Nun wurden die neu identifizierten Werke in der Leipziger Thomaskirche aufgeführt.

Aufführungen in der Thomaskirche

Die erste Aufführung der beiden rund 14 Minuten dauernden Werke spielte der niederländische Organist Ton Koopman. Die Stücke seien ein Gewinn für die Komponisten der heutigen Zeit, so Koopman. Sie könnten auf kleineren Orgeln gespielt werden und zeugten von der Genialität des jugendlichen Komponisten. Eine weitere Aufführung ist am Samstag in der Motette der Leipziger Thomaskirche geplant. Die Edition erschien am Montag im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel.

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sprach von einem Ereignis von nationaler Bedeutung: „Es ist ein Glücksfall, eine Sternstunde für die Welt der Musik und es ist eine Weltsensation.“ Wollny habe „fast wie ein Detektiv in kriminologischer Kleinarbeit“ gearbeitet. Bach sei „ein Weltstar“, dessen Musik Epochen und Generationen verbinde.

Auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung zeigte sich bewegt: „Ich bin einfach nur glücklich heute.“ Die Entdeckung sei „ein wunderbares Ergebnis einer jahrzehntelangen wunderbaren Forscherarbeit“. „Diese Forschung stärkt Leipzigs internationale Strahlkraft und vertieft unser Verständnis eines Komponisten, der die Musikgeschichte geprägt hat wie kaum ein anderer“, betonte Jung.

Claus Fischer von der MDR-Musikredaktion bestätigte bei tagesschau24, die Bedeutung sei nicht zu unterschätzen. „Denn diese Werke verraten viel über den jungen Bach, über den wir ja ganz wenig wissen.“ Die entdeckten Werke würden dabei helfen, die Entwicklung Bachs zu verstehen. So habe auch Wollny darauf hingewiesen, dass sich in späteren Werken typische Merkmale befänden, die in den nun entdeckten Stücken in Ansätzen zu finden seien.

Ursprung von Chaconnen aus spanischen Tänzen

Die Identifizierung ist Wollny im Rahmen der Arbeiten am „Forschungsportal Bach“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gelungen. Das Projekt sammelt archivalische Quellen zur gesamten Bach‑Familie von Stammvater Veit Bach bis ins frühe 19. Jahrhundert. Diese Quellen werden digital erfasst, kommentiert und öffentlich zugänglich gemacht.

Eine Chaconne ist laut Koopman eine musikalische Form des Barock, die auf einer ständig wiederkehrenden Basslinie basiert, über die der Komponist abwechslungsreiche Variationen gestaltet. Ursprünglich aus spanischen Tänzen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen, besitzen viele Chaconnen einen getragenen, feierlichen Charakter.

Zu den bekanntesten Beispielen zählt die Chaconne aus Bachs Partita d-Moll für Violine solo, die als eines der eindrucksvollsten Werke dieser Gattung gilt.