Hedelfingen gehört zu den Bezirken in Stuttgart, in denen Mietpreise zuletzt am stärksten gestiegen sind. Ist die industriell geprägte Gegend attraktiv – oder die Innenstadt zu teuer?

 Michael Wießmeyer und Kai Freier stehen auf dem Turm der Kreuzkirche in Hedelfingen, ihre Blicke schweifen über Häuserdächer, Weinreben und den Frauenkopf. Stadtflucht, so Wießmeyer, der Experte für die Hedelfinger Ortsgeschichte ist, habe es schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gegeben. „Leo Vetter zog damals aus dem Zentrum Stuttgarts raus nach Hedelfingen, um auf dem Land zu leben“, sagt er über den Bäderpionier. „Man ist schnell in der Innenstadt, aber auch schnell im Grünen“, schwärmt der Vorsitzende des Fördervereins für eine heimatkundliche Sammlung im Stadtbezirk Hedelfingen/Rohracker. „Wir können von hier aus zum Fernsehturm laufen – und müssen dabei nur zweimal eine Straße überqueren.“

Auch heute ziehen Menschen aus Stuttgarts Innenstadt in Randbezirke, wegen hoher Mieten im Zentrum etwa, oder auch, weil sie sich mehr Grün oder Ruhe wünschen. Beim Stadtbezirk Hedelfingen kann von einem starken Zuzug nicht die Rede sein. „Kaum Neubau, kaum Zuzüge“, fasst Bezirksvorsteher Kai Freier zusammen. Dennoch gehört der Vorort links des Neckars zu den Stuttgarter Stadtbezirken, in denen die Mieten seit 2012 am stärksten gestiegen sind, wie Angebotsmieten der Investmentberatung Jones Lang Lasalle (JLL) zeigen.

Die Angebotsmiete auf gängigen Immobilienportalen ist demnach im Bestand um 75,5 Prozent gewachsen. 2024 kostete der Quadratmeter in Hedelfingen im Schnitt 15,1 Euro. 2012 waren es noch 8,6 Euro. Zum Vergleich: In Stuttgart-West, dem derzeit teuersten Bezirk Stuttgarts, kostete der Quadratmeter 2024 durchschnittlich 18,2 Euro (2012: 11,4 Euro). Hedelfingen ist mit Blick auf die Mietpreise immer noch günstiger als die Innenstadt – nähert sich ihr aber an.

Anjulie Timur zufolge lässt sich das unter anderem durch den sogenannten Verdrängungseffekt erklären: „Steigende Mieten in zentralen Lagen führen dazu, dass Haushalte mit mittlerem Einkommen ins Umland ausweichen müssen“, sagt die Professorin für Immobilienwirtschaft an der Dualen Hochschule in Stuttgart. Weil die Nachfrage im Umland anzieht, werden dort höhere Mieten ausgeschrieben – die äußeren Stadtbezirke holen auf.

Darüber hinaus könnten Mietpreise aber auch durch den Wandel von Quartieren steigen, sagt Immobilienexpertin Timur: „städtebauliche Aufwertung, neue Infrastruktur und Sanierungen“, die dazu führen, „dass Stadtteile nett werden“. Ist das auch in Hedelfingen der Fall? Hat es sich zuletzt stark gewandelt und ist dadurch attraktiver geworden?

Familie Heer schätzt die Natur in Stuttgart-Hedelfingen

Anna Heer jedenfalls kam nicht aufgrund städtebaulicher Aufwertung in den Neckarvorort. 2020 ist die 35-Jährige mit ihrer Familie von Echterdingen nach Hedelfingen gezogen. Zu der Entscheidung bewogen hat sie und ihren Partner aber weniger das Viertel an sich, sondern vielmehr ein Haus im Familienbesitz, in dem sie nun mit ihrer Tochter wohnen.

Positives kann die junge Mutter Hedelfingen dennoch abgewinnen. Dass man schnell in den Weinbergen, der Natur ist, gefällt ihr. „Es gibt einen guten Familienverbund hier, eine schöne Gemeinschaft“, sagt sie zudem. Und: „Fast alles ist fußläufig erreichbar.“

Anna Heer wohnt seit 2020 in Stuttgart-Hedelfingen. Foto: Lisa Kutteruf

An seinem Schreibtisch im neu sanierten Bezirksrathaus gibt Kai Freier einen Einblick in das, was sich derzeit tut in Hedelfingen. Im Computer des Bezirksvorstehers befindet sich etwa die inzwischen beschlossene Vorlage für die neue Sport- und Kulturmitte. Die alte Turn- und Versammlungshalle in der Hedelfinger Straße soll abgerissen und an ihrer Stelle ein zweiteiliges Sport- und Veranstaltungsgebäude gebaut werden, inklusive einer Stadtteilbibliothek und Bürgerbüros für Hedelfingen, Obertürkheim, Untertürkheim und Wangen.

Später soll hier außerdem eine „Grüne Mitte“ entstehen. Neben dem Computer des Bezirksvorstehers liegt ein Stoß Blätter zur Hedelfinger Kelter. Was soll mit ihr geschehen, nachdem sich die Weingärtnergenossenschaft jüngst aufgelöst hat? Das ist noch offen.

Als positiv vermerkt Freier außerdem die zwei Kindergartenneubauten, die Hedelfingen unlängst bekommen hat. Dadurch gibt es nun deutlich mehr Kita-Plätze im Bezirk. Auch beim Thema Verkehrsinfrastruktur gibt es Bewegung. Freier ist es ein Anliegen, den Durchgangsverkehr zu begrenzen, dafür Rad- und Fußwege auszubauen: Die Hauptradroute 2 zwischen den Otto-Konz-Brücken und dem Hedelfinger Platz ist fertig. Und der Hedelfinger Platz soll zum Kreisverkehr werden.

Hedelfingen: Vom Bauerndorf zum Teil einer Industriestadt

Insgesamt jedoch sind es eher kleinere Entwicklungen, die sich in den vergangenen Jahren vollzogen haben. Zu sagen, dass sich Hedelfingen als Stadtbezirk zuletzt stark gewandelt hätte, wäre zu hoch gegriffen. Anders sieht es mit Blick auf die letzten 100 Jahre aus: In dieser Zeit hat sich vieles grundlegend geändert, berichtet Hedelfingen-Experte Michael Wießmeyer, als er auf dem Turm der Kreuzkirche steht. 100 Hektar Weinbaugebiet anno 1800 wurden zu 16 Hektar heute. Der sich schlängelnde Neckar mit fruchtbarem Ackerland wurde zum eingezwängten Kanal für Großschiffe. Und das Bauerndorf wurde Teil der Industriestadt Stuttgart.

Beim Umbau des Neckars zur Großschifffahrtsstraße spricht der Hedelfinger Bezirksvorsteher Freier von „Fluch und Segen“. Segen, weil der Umbau Arbeitsplätze geschaffen hat. „Ohne den Neckarhafen wäre die Industrie abgeschnitten gewesen“, sagt auch der Hedelfingen-Kenner Wießmeyer. Fluch, weil die Verlegung die natürlichen, grünen Neckarauen verdrängt und viel Verkehr gebracht hat – an Land wie auf dem Wasser.

Ortsexperte Michael Wießmeyer (li.) und Bezirksvorsteher Kai Freier an einem ihrer Lieblingsorte – dem Turm der Hedelfinger Kreuzkirche. Foto: Ferdinando Iannone/Lichtgut

Genau das könnte sich nun wieder ändern – zumindest ein bisschen: 2043 soll die Bundesgartenschau an den Neckar kommen und mit ihr die Chance, das Flussufer aufzuwerten und für die Menschen wieder zugänglicher machen. Die Bewerbung der Region geht dabei auch auf das Engagement Kai Freiers zurück. Die Bezirksbeiräte in Hedelfingen und Wangen hatten sich dafür stark gemacht, die Landesgartenschau in die Stuttgarter Neckarstadtbezirke zu holen.

Wird das Neckarufer also bald wieder grüner und schöner, wie damals vor der Kanalisierung? Kai Freier und Michael Wießmeyer, so viel steht fest, würden sich freuen. Und die Attraktivität von Hedelfingen als Wohnort würde dadurch sicherlich erneut steigen.

Fotografien von Hedelfingen einst und heute finden sich in der Bildergalerie.

Angebotsmieten im Vergleich

Mietpreise
Bei den Daten, auf die sich dieser Artikel bezieht, handelt es sich um Value Marktdaten, also Angebotsmieten, die Inserate auf gängigen Immobilienportalen umfassen und häufig als Grundlage für Marktanalysen und Bewertungen in der Immobilienbranche dienen. Typischerweise liegen diese Inserate über den Mieten älterer Verträge in gebrauchten Wohnungen. Die Daten wurden von der Investmentberatung Jones Lang Lasalle (JLL) zur Verfügung gestellt und bilden jeweils den Medianwert der Quadratmeter-Nettokaltmiete in gebrauchten Wohnungen in den Stuttgarter Stadtbezirken ab. Der Median wird weniger von besonders niedrigen oder hohen Mieten verzerrt. Möblierter, nur kurzzeitig vermieteter Wohnraum sowie geförderter Wohnraum sind ausgeschlossen. Betrachtet wurde der Zeitraum von 2012 bis 2024 sowie das erste Halbjahr 2025.

Hedelfingen
Als der südlichste der vormaligen Neckarvororte gehört der Stadtbezirk Hedelfingen seit 1922 zu Stuttgart. Der Stadtbezirk teilt sich in die Stadtteile Hedelfingen, Rohracker, Lederberg und Hafen auf. Der Großteil des Neckarhafens liegt auf Hedelfinger Gemarkung. Ende des Jahres 2024 hatte der Bezirk Hedelfingen nach Angaben der Stadt 9823 Einwohner, 410 Personen weniger als ein Jahr zuvor.