
Wie viele Femizide gibt es in Deutschland? Und was genau ist überhaupt ein Femizid? Eine Studie zeigt: Oft ist am Anfang eine Trennung – häufig stehen dahinter Eifersucht und Sexismus.
Fatima E. hat in ihrem Leben schon so viel Gewalt erlebt, dass man es sich kaum vorstellen kann. Ihren Namen haben wir geändert. Zu groß ist ihre Angst, von ihrer Familie erkannt, gefunden und getötet zu werden.
Fatimas Familie stammt aus dem Nahen Osten und ist muslimisch, wohnt aber schon lange in Deutschland, erzählt Fatima. „Meine Mutter hat oft gesagt: Wenn eine Tochter einen Fehler macht, dann ist das in Deutschland ganz einfach. Für Totschlag gibt es nur ein paar Jahre und im Gefängnis gibt es Essen und wenn es wegen Ehre ist, passiert einem Mann nichts.“
„Ehrenmorde“ machen nur einen geringen Anteil aus
Fatima ist einem Femizid entgangen. So nennt man im Allgemeinen die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Ihr Beispiel würde ins Bild eines sogenannten Ehrenmordes passen. Aber: „Ehrenmorde“ sind im Vergleich zu anderen Fällen von Femizid sehr selten. Das ist eines der Ergebnisse der Studie „Femizide in Deutschland“. Sie soll erstmals eine Vorstellung davon geben, wie viele Femizide es hierzulande gibt und welche Motive dahinterstecken. Dafür hat das Team mehr als 50.000 Seiten Aktenmaterial aus fünf Bundesländern analysiert.
Die Daten stammen aus dem Jahr 2017, um sicherzustellen, dass die Strafverfahren zum Zeitpunkt der Datenerhebung abgeschlossen waren, heißt es. Auf fünf Bundesländer wurde sich aus Zeit- und Kostengründen fokussiert.
Femizide folgen keinem Muster
Jörg Kinzig ist Professor für Kriminologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Projektleiter der Studie. Seine wichtigste Erkenntnis: Femizide folgen keinem Muster, sondern seien „wahnsinnig vielfältig“.
Eine Konstellation komme aber doch besonders häufig vor: Femizide in Zusammenhang mit einer gescheiterten Beziehung. „Wenn der Mann erkennt, dass die Beziehung nun endgültig gescheitert ist. Oder wenn er meint – und das kann stimmen oder auch nicht stimmen -, dass die Frau sexuell untreu geworden ist und er dann subjektiv keine andere Möglichkeit für sich sieht, als auf diese Trennung oder vermeintliche Untreue mit einer Tötungshandlung zu reagieren.“
Es gebe aber auch ganz andere Fälle. Etwa alters- oder krankheitsbedingte Femizide, die oft auch mit einem Suizid des Mannes einhergingen. Hinweise auf eine unglückliche oder gar gewaltvolle Beziehung gebe es dann eher nicht.
Studie teilt Femizide in Falltypen ein
Neben Femiziden von Partnerinnen und Ex-Partnerinnen hat Kinzigs Team unter anderem auch Fälle von Femiziden mit sexuellem Bezug (ohne Partnerschaft) und Mutter- sowie Großmuttertötungen ausgemacht. In nicht wenigen Fällen war der Täter psychisch krank.
Was aber haben diese Fälle nun gemeinsam? Wann ist ein Femizid ein Femizid? Die Forschungsgruppe hat letztlich 197 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte an Frauen genauer ausgewertet. Davon hat das Team 133, also etwa zwei Drittel, als Femizide im weiteren Sinne klassifiziert. Für die Forschenden setzt ein Femizid voraus, dass sich das Tötungsdelikt gegen eine weibliche Person richtete, die Tatperson vorsätzlich handelte und die Tat einen Geschlechtsbezug aufweist.
Das heißt: Als Femizide in diesem Sinne wurden alle Arten von Tötungsdelikten gewertet, von denen Frauen überproportional betroffen sind – etwa Tötungen an Prostituierten – oder bei denen sie in einer bestimmten sozialen Rolle getötet wurden, zum Beispiel als Ex-Partnerin oder Mutter.
Enger Femizidbegriff weist sexistisches Motiv auf
Und dann hat Kinzigs Team noch einen zweiten, engeren Femizidbegriff gebildet. Dem lag zugrunde, ob die Tat aus einem sexistischen Motiv begangen wurde. „Also zum Beispiel, wenn ein Mann aufgrund eines patriarchalen Besitzdenkens nicht ertragen hat, dass seine Frau ihn verlassen hat“, erläutert Kinzig.
Nach dieser Definition blieben 74 versuchte oder vollendetet Femizide übrig – in fünf Bundesländern, innerhalb nur eines Jahres. Damit sind Frauentötungen hierzulande laut Kinzig im internationalen Vergleich zwar immer noch selten. Aber sie zeigen auch nur die Spitze eines Eisbergs an Gewalt gegen Frauen.
Kriminologe empfiehlt bessere Prävention
Wie können wir Frauen also schützen? Von höheren Strafen hält Kriminologe Kinzig eher wenig. Ihm ist Prävention wichtiger: genügend Plätze in Frauenhäusern schaffen, auch für Kinder von Betroffenen. An der Erziehung von Jungen arbeiten. Und auch die gerade von der Bundesregierung beschlossene elektronische Fußfessel hält er für einen richtigen, wenn auch kleinen Schritt.
Betroffene Frauen sollten dagegen ermutigt werden, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu lösen. Diesen Vorschlag unterstützt auch Sozialpädagogin Stefanie Sickinger, die Leiterin des katholischen Frauenhauses in Karlsruhe.
Aber sie sagt auch, dass dafür niedrigschwellige Hilfe nötig sei: „Das bedeutet, dass wir alle in der Gesellschaft gefragt sind, diesen Frauen mit wenig Vorurteilen zu begegnen. Das ist schon immer mit einer hohen Scham besetzt, das Thema häusliche Gewalt. Und wenn wir dann auch noch in Frage stellen, was die Frauen berichten, dann trauen sie sich oftmals gar nicht mehr, Hilfe zu holen.“
Hilfe bei Gewalt
Hilfsangebote bei Gewalt gibt es beim Hilfetelefon des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben und der kostenfreien, rund um die Uhr zu erreichenden Nummer 116 016. Auch Online-Beratung per Chat oder Mail wird dort angeboten. Weitere Anlaufstellen sind örtliche Frauenhäuser oder Beratungsstellen. Im Notfall ist der Notruf 110 zuständig.
Umgangsrecht mit Kindern stellt Gefahr für Frauen dar
Fatima E., die nicht nur von ihren Eltern und Geschwistern, sondern auch von ihrem Ex-Partner Gewalt erfahren hat, findet: Die Gesetze im Umgang mit Kindern sollten sich ändern. Auch wenn er nicht weiß, wo sie sich im Moment aufhält, habe ihr Partner de facto immer noch das anteilige Sorgerecht.
Die neue Femizidstudie unterstreicht Fatimas Bedenken: In neun der untersuchten Fälle nutzte der Täter den Umgang mit einem gemeinsamen Kind, um sich über Gewaltschutzmaßnahmen hinwegzusetzen und die Frau zu töten.
Mehr Daten zu Femiziden gefordert
Ansatzpunkte, um Femizide zu verhindern, gibt es also viele. Laut Kinzig bräuchte es aber auch eine Art Femizid-Monitor, also mehr Daten, um noch mehr Zusammenhänge zu erkennen und präventive Maßnahmen zielgerichteter einsetzen zu können.
Das Karlsruher Frauenhaus nehme das jetzt selbst in die Hand – zusammen mit weiteren Stellen der Stadt, die mit häuslicher Gewalt zu tun haben, berichtet Sickinger. Denn in den Frauenhäusern gebe es viele Frauen, die einen Femizid überlebt hätten, aber in keiner Statistik auftauchten, weil sie sich nie an die Polizei gewandt hätten. „Ich habe zum Beispiel eine Frau begleitet, die hat dann berichtet, er hat sie ins Auto gezerrt, ist mit ihr irgendwo auf ein freies Feld gefahren, hat sie aus dem Auto geworfen und hat sie über das Feld gejagt und hat versucht, sie zu überfahren. Das ist schon was, was potenziell ziemlich tödlich enden kann.“ Auch Fälle von Frauen, die bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt wurden, gebe es regelmäßig.
Frauenhäuser haben hohen Stellenwert für Betroffene
Die Arbeit der Frauenhäuser war auch für Fatima wichtig. Die Flucht dorthin bedeutete für sie den Beginn eines neuen Lebens ohne Gewalt. Zwar immer noch voll Angst, aber auch mit Hoffnung: „Meine Kinder haben auch viel gelernt durch die Einrichtung, in der ich war. Dass die Kinder für sich einstehen und aussprechen, wenn Dinge nicht passen und wenn sie etwas nicht möchten, sagen sie nein.“
Ein ausführliches Gespräch mit Studienmacher Jörg Kinzig gibt es im ARD-Podcast „Das Wissen“. Die Folge heißt „Femizide in Deutschland – Die bislang größte Untersuchung“.
