Nettelsee/Kiel. Bram Zamjatnins wurde nicht in einem Krankenhaus geboren. Auch nicht in einem Geburtshaus oder zu Hause. Er kam vor einem Monat in einem Auto zur Welt, mitten in Kiel, an der Kreuzung von Schützenwall und Westring.

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Seine Mutter Anna Zamjatnins erzählt die Geschichte so: Um 4 Uhr wacht sie auf, weil Wehen einsetzen. Sie zählt die Wehen, misst die Abstände. Es ist ihre vierte Geburt, sie kennt die Abläufe. „Die Zeit hätte reichen müssen”, sagt sie. Um kurz nach 6 Uhr bringen sie und ihr Ehemann Falko ihre Kinder zum Opa. Von dort machen sie sich aus Nettelsee um 6.10 Uhr auf den Weg zur Uni-Klinik in Kiel.

Geburtsstation in Preetz geschlossen – keine mehr im Kreis Plön

Das müssen sie aus zwei Gründen: Zum einen ist die nächstgelegene Geburtstation in Preetz im vergangenen Jahr aufgrund von Personalmangel geschlossen. Seither gibt es im Kreis Plön keine mehr. Zum anderen liegt bei Zamjatnins ein Risiko für Blutgruppenunverträglichkeit vor. Sie muss daher in ein Perinatalzentrum mit dem Level 1 – der höchsten Versorgungsstufe.

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Laut Zahlen des Hebammenverbands wurden 17 Kreißsäle in den vergangenen 25 Jahren in Schleswig-Holstein geschlossen. „Die Versorgungssituation bei der Geburtshilfe wird schlechter“, sagt Anke Bertram, Vorsitzende des Hebammenverbandes Schleswig-Holstein. Es gibt nun noch 15 Kliniken mit Geburtsstationen.

Anna Zamjatnins berichtet weiter: Da die Autobahn 21 als schnellste Verbindung zurzeit ausgebaut wird, nehmen die Zamjatnins den Umweg über die Autobahn 215. In Kiel schließlich bleiben sie an der Ecke Schützenwall und Westring an einer roten Ampel stehen. Während sie auf Grün warten, merkt Anna Zamjatnins, dass sich etwas verändert: Die Wehen werden kräftiger, der Muttermund öffnet sich.

„Fahr rechts ran“, ruft sie. In dem Moment schaltet die Ampel auf Grün, Falko Zamjatnins fährt noch über die Kreuzung. „Das kam mir stundenlang vor“, sagt die vierfache Mutter. Am Straßenrand halten sie an.

Ehemann Falko half bei Geburt im Auto

Dann geht alles ganz schnell: Falko Zamjatnins springt aus dem Auto, hilft seiner Frau, die Hose auszuziehen. Im Auto ist es eigentlich zu eng, aber aussteigen kann Anna Zamjatnins nicht mehr. Sie weist ihren Mann an: Sobald er ein Körperteil des Kindes zu fassen bekomme, solle er daran ziehen. Zum Glück, sagt Zamjatnins, arbeiten beide bei der Feuerwehr. Sie haben eine Sanitäter-Ausbildung, können also mit Notfallsituationen umgehen. „Und dann hatte er den Lütten auch schon im Arm.“

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Um 6.46 Uhr schließlich rufen die Eltern einen Rettungswagen. Doch der Notdienst rät ihnen, besser selbst ins Krankenhaus zu fahren, als zu warten – das ginge schneller. Es ist Oktober, nass und kalt. Anna Zamjatnins macht sich Sorgen um ihr Baby, wickelt es in ihren Pullover.

Rote Ampeln in Kiel: Familie aus Nettelsee braucht lange ins Krankenhaus

Um 7.07 Uhr endlich kommt die Familie im Universitätsklinikum an. Rote Ampeln sorgen dafür, dass das Paar für die letzten vier Kilometer noch einmal eine Viertelstunde braucht. An einer Ampel halten die Zamjatnins neben einem Bus. Was müssen die Leute denken, überlegt Anna Zamjatnins, wenn sie mich sehen: ohne Kleidung, blutverschmiert, mit einem Neugeborenen im Arm? „Bei der Geburt gab es keine Intimität, keinen Schutz“, sagt sie.

Noch im Auto wird die Nabelschnur durchtrennt, die Plazenta kommt im Kreißsaal nach. Ein nicht unwichtiges Detail: Dadurch gilt das UKSH und somit Kiel offiziell als Geburtsort von Baby Bram.

Anke Bertram ist Landesvorsitzende des Hebammenverbands Schleswig-Holstein.

Daher gibt es auch keine Zahlen dazu, wie oft Kinder in Autos oder Rettungswagen zur Welt kommen. „Das verfälscht die Statistik“, kritisiert Anke Bertram vom Hebammenverband. Gefühlt jedoch nehme die Zahl von ungeplanten außerklinischen Geburten, ob auf der Straße oder zu Hause, aufgrund der unzureichenden Versorgungslage zu. Sie sieht Handlungsbedarf: „Die zunehmende Zentralisierung ist der falsche Weg.“

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Was hätte schiefgehen können?

Die Panik habe erst hinterher eingesetzt, sagt Anna Zamjatnins. Zwar habe sie sich schon vorher Sorgen gemacht: „Das macht man als schwangere Frau auf dem Dorf immer.“ Aber wirklich damit gerechnet, ihr Baby im Auto zu bekommen, habe sie nicht.

Sorgen macht man sich als schwangere Frau auf dem Dorf immer.

Anna Zamjatnins

Mutter aus Nettelsee

„Währenddessen musste ich funktionieren“, sagt die Frau aus Nettelsee. „Ich wusste: Aufhalten kann ich die Geburt eh nicht, wir müssen da jetzt irgendwie durch.“ Erst hinterher sei ihr bewusst geworden, was alles hätte schiefgehen können. Was, wenn es Komplikationen gegeben hätte? Was, wenn sie und ihr Mann keine Grundausbildung als Sanitäter hätten? Was, wenn sie nicht schon Erfahrungen von ihren anderen Geburten gehabt hätte? Was, wenn sie allein gewesen wäre? Den Weg bis zum UKSH über habe sie geweint.

Dass in Schleswig-Holstein immer mehr Kreißsäle schließen, hält Anna Zamjatnins vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung für problematisch. „Es gibt viel zu wenige, die Wege sind zu weit“, sagt sie. „Wann soll man denn losfahren? Schon beim ersten Ziehen?“

KN