imago images 0829805602Vergrößern des BildesFrauke Brosius-Gersdorf: Ihr verhinderte Wahl war „ein Tiefpunkt der politischen Kultur“, sagt Susanne Baer. (Quelle: IMAGO/teutopress GmbH)

Deutschland ist ein diverses Land, der Blick auf die derzeitige Besetzung des Bundesverfassungsgerichts zeigt weiße Frauen und Männer ohne Migrationshintergrund. Ist das nicht ein Problem?

Da ist ganz sicher Luft nach oben, aber verschieden sind die Richterinnen und Richter schon jetzt. In der Justiz ist es jedenfalls besser als in deutschen Chefetagen. Und bei der Vielfalt kommt es auf sehr viele Aspekte an.

Ihre Wahl nach Karlsruhe war ein Schritt hin zu mehr Diversität, Sie waren die erste offen homosexuelle Richterin am Bundesverfassungsgericht.

Tatsächlich bin ich in den Vorgesprächen von konservativer Seite dazu auch intensiv befragt worden. Im Arbeitsleben wäre das verboten, aber ich habe offen und ehrlich geantwortet. Werden heterosexuelle Menschen auch gefragt, ob sich das auf ihre juristische Arbeit auswirkt? Ich dachte jedenfalls, dass die Abgeordneten die ungeschminkte Wahrheit verdient haben – und habe wohl die Vorurteile ausräumen können.

Haben die zwölf Jahre in Karlsruhe Sie verändert?

Eigentlich müssen Sie da andere Menschen fragen. Aber so ein Amt geht natürlich an niemanden spurlos vorüber. Es ist eine sehr intensive Zeit, die enge Zusammenarbeit, die Begegnungen, die auch harten Beratungen. Ich hatte vor allem das große Glück, mit wunderbaren Menschen zusammenzuarbeiten. Es gab da eine bemerkenswerte Offenheit für andere Standpunkte.

Haben Sie sich selbst von anderen Argumenten überzeugen lassen?

Immer wieder, ja. So wie andere meine Argumente ab und an überzeugt haben. Da lernen alle von- und miteinander.

Wie haben sich die Bürgerinnen und Bürger die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts vorzustellen?

Es ist ein Zwillingsgericht, mit zwei Senaten, aber die meisten Entscheidungen machen die Kammern mit je drei Richterinnen und Richtern. Die Vorbereitung liegt immer bei einer Person, dem sogenannten Berichterstatter oder der Berichterstatterin: Sie bekommt die Akte zuerst und trägt dann mit ihrem Team alles zusammen, was dazugehört. So entsteht ein umfangreiches Gutachten, das alle bekommen, sich einarbeiten und dann zusammen beraten. Manchmal gibt es eine mündliche Verhandlung, ganz viel wird schriftlich gemacht. Aber nichts entscheidet einer allein.

Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts: Seit 1951 wacht Karlsruhe über die Einhaltung des Grundgesetzes.Vergrößern des BildesEröffnung des Bundesverfassungsgerichts: Seit 1951 wacht Karlsruhe über die Einhaltung des Grundgesetzes. (Quelle: dpa)

Was geschieht in Karlsruhe noch?

Das Bundesverfassungsgericht ist ein Bürgergericht, das zeigt auch die offene Architektur. Vor allem aber darf sich jede Bürgerin und jeder Bürger an das Gericht wenden, mit der Verfassungsbeschwerde – und da schildern Menschen, was sie als ungerecht erlebt haben. Oft können ihnen die normalen Gerichte helfen, dann haben sie in Karlsruhe keinen Erfolg, und viele beschreiben nicht genau genug, worum es geht, dann kann das nicht in der Sache entschieden werden. Aber wenn etwas dran ist, gibt es längere Verfahren. Dann bittet das Verfassungsgericht um Stellungnahmen, und zwar nicht nur die Regierung und die Betroffenen, sondern auch Menschen, die sich in der Sache auskennen, als eben sachkundige Dritte. Das wird auch immer wichtiger. Denn wir leben als Gesellschaft in einer Zeit der Zweifel: Was sind die Fakten, wer sagt die Wahrheit, wer hat wirklich Expertise?

Besonders die Corona-Pandemie machte das deutlich.

Sie sagen es. Das war für alle eine schwere Zeit, und in Karlsruhe waren es Hunderte Verfahren, die unter Hochdruck bearbeitet worden sind. Da hat der Senat auch Leute um Stellungnahmen gebeten, an deren Fachkunde viele zweifelten, wie Ärzte „gegen das Impfen“. Aber so wird auch deutlich, dass alle Perspektiven gehört werden, auch wenn sie erst einmal dubios erscheinen. Und das Gericht spielt nicht den Besserwisser. Egal, was auf den Tisch kommt – im Verfassungsgericht nehmen sich die Richterinnen und Richter die Zeit und beraten das, bis ein Konsens erreicht ist, der dann möglichst überzeugt. Das war eine intensive Erfahrung. Und auch da sind mit der Entscheidung am Ende nie alle zufrieden.

Stellt sich die Frage, welche „Roten Linien“ für die Karlsruhe gelten?

Auch ein Verfassungsgericht darf gewisse Grenzen nicht überschreiten. Vor allem ersetzt es nicht die Politik, sondern muss den politischen Spielraum offenhalten. Die Richterinnen und Richter erfinden auch kein Recht, sondern interpretieren das Grundgesetz, sie legen es aus. Was bedeutet Menschenwürde heute, in einem konkreten Fall? Wie steht es um die Grenzen der Meinungsfreiheit, die im Grundgesetz genannt sind, aber dann konkret geklärt werden müssen? Das ist eine große Aufgabe, und die Verantwortung ist spürbar. Dazu kommt heute auch, dass wir in Deutschland ja nicht isoliert auf einem anderen Planeten leben, sondern in der Europäischen Union und der ganzen Welt. Auch diese Regeln müssen deshalb mit bedacht werden.

Nach welchen Kriterien geht ein Verfassungsrichter vor?

Da gelten die Auslegungsregeln, sie sind seit Langem anerkannt. Der Wortlaut des Grundgesetzes ist natürlich der Anfang: Was steht da eigentlich genau? Dann muss das Grundgesetz als Ganzes gesehen werden: Was sagt also eine Regelung, wenn sie systematisch auch im Zusammenhang gesehen wird? Denn es gibt nicht nur den Artikel 1 des Grundgesetzes, sondern auch Artikel 2, Artikel 3 und so weiter. Und was ist der Sinn und Zweck dahinter, juristisch der Telos. Je jünger eine Regelung ist, desto mehr muss auch auf die Entstehungsgeschichte geachtet werden. Und über all das müssen sich in Deutschland dann im Senat acht möglichst verschiedene Leute einigen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind dann oft ziemlich lang, denn da wird all das ausführlich begründet. Auch das ist wichtig, damit sich alle auf das Gericht verlassen können und ihm vertrauen.

Susanne Baer als Bundesverfassungsrichterin: Sie gehört dem Ersten Senat an.Vergrößern des BildesSusanne Baer als Bundesverfassungsrichterin: Sie gehörte dem Ersten Senat an. (Quelle: Stockhoff/imago-images-bilder)

Ist das Grundgesetz den Herausforderungen unserer Gegenwart überhaupt gewachsen?

Jedenfalls hat es das bislang immer wieder bewiesen. Allerdings ist der Text auch oft geändert worden, dann mit einer ganz großen politischen Mehrheit. Ansonsten muss das Bundesverfassungsgericht auch alte Regeln so interpretieren, dass sie Menschen heute schützen. Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, gab es ja viele Dinge noch nicht, die heute unser Leben ausmachen, wie Internet und Smartphone. Soll ein Verfassungsgericht dazu schweigen? Das kann nicht sein. Es hat doch den Auftrag, für die Bürgerinnen und Bürger und die Demokratie insgesamt da zu sein.

Da gibt es viele. Was bedeutet Freiheit, wenn wir unsere ganzen Daten auf irgendwelchen Plattformen preisgeben? Was heißt Menschenwürde, wenn wir über Migration diskutieren? Was bedeutet Freiheit, wenn anonyme Posts nun Hass verbreiten? Was ist Gleichheit im Zugang zu Bildung heute, zu Jobs? Was bedeutet Demokratie für uns in der EU? Und was sagt die Verfassung zur Klimakatastrophe? Das sind heute existenzielle Fragen, und wenn ein Gericht hier aus dem Spiel wäre, wäre auch der Schutz der Grundrechte und der demokratischen Verfahren weg. Das möchte ich mir lieber nicht vorstellen.

Fast 80 Prozent der Deutschen vertrauen dem Bundesverfassungsgericht. Das ist doch schon ein enormer Wert gegenüber dem erodierenden Vertrauen der Menschen in die Parteien.

Es wäre natürlich gut, wenn das Vertrauen in politische Parteien und die Parlamente größer wäre. Aber es macht ein Verfassungsgericht umso wichtiger. Dann gibt es notfalls eben diese Institution, auf der Vertrauen ruht.

Daher die Frage: Wie sieht der Alltag in Karlsruhe aus?

Akten, Akten, Akten. Das mag langweilig klingen, aber in den Akten steckt das Leben – und wie das dann konkret läuft, beschreibe ich in dem Buch. Manches können Sie auch sehen, wenn sie in Karlsruhe sind. Das Verfassungsgericht ist als Bürgergericht ja bewusst überwiegend aus Glas gebaut, und wenn es abends dunkel wird, sehen Sie die Richterinnen und Richter oft am Schreibtisch sitzen. Und dahinter gibt es dann noch ganz viele andere, die dafür sorgen, dass es da mit rechten Dingen zugeht, im besten Sinne des Wortes.

Die wird auch gebraucht, sonst wären die vielen Verfahren nicht zu schaffen. Jeder Richter, jede Richterin hat je vier Mitarbeitende, das sind meist jüngere Richterinnen und Richter oder auch Staatsanwälte aus den Ländern. Sie bereiten die Sachen vor, werten alles aus, schreiben das Gutachten und entwerfen meist auch den Beschluss. Als Richterin muss ich das dann prüfen, selbst weiter bearbeiten und den Kollegen vorlegen. Wenn die in einer Kammer überzeugt sind, dass das so richtig ist, unterschreiben sie, und in den großen Fällen, über die dann auch in den Medien berichtet wird, berät der Senat lange, und mehrfach, und am Ende jedes Wort. Das muss sitzen, weil dann ganz klar sein muss, was solch ein Urteil bedeutet.

Wie viele Fälle sind es in etwa pro Jahr?

Im Gericht kommen etwa 10.000 Eingaben an, die meisten als Verfassungsbeschwerden, und etwa 6.000 werden entschieden. Davon sind aber nur rund zwei Prozent erfolgreich. Das bedeutet also: Der Rechtsstaat funktioniert weithin, dann mischt sich das Verfassungsgericht nicht ein.

Wenn Sie noch mal vor der Entscheidung stünden, Verfassungsrichterin in Karlsruhe zu werden: Würden Sie sich erneut dazu entschließen?

Jutta Limbach, die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, hat einmal gesagt, dass es Fragen gibt, auf die das Nein sehr schwer fallen dürfte. Diese Worte klangen mir 2011 im Ohr. Als ich gefragt wurde, fühlte ich mich vor allem geehrt: so ein hohes Amt, so viel Verantwortung. Und dann war es eine unglaublich interessante und bereichernde Tätigkeit.

Hatten Sie jemals Zweifel an Entscheidungen, die Sie in Karlsruhe mitgetragen haben?

Mit vielen Fragen habe ich gehadert, das beschreibe ich auch. Aber ich kann nach wie vor in den Spiegel schauen. Am Ende stand ja auch immer ein Konsens, nachdem wir möglichst alles abgewogen hatten. Wenn sich mit so viel Aufwand acht ziemlich verschiedene Menschen in Karlsruhe einigen können, dann lässt sich hoffen, dass es auch in der Gesellschaft akzeptiert werden kann.

Professorin Baer, vielen Dank für das Gespräch.