Im Jahr 1839 unternahm der französische Adlige Astolphe de Custine eine Reise durch Russland. Sein Buch kam auf den Index, er selbst wurde als „Agent“ diffamiert. Seine Beobachtungen und Urteile treffen noch heute die Realität in Putins Reich.
War er ein „ausländischer Agent“? Für Putin gewiss! Wie jeder, der über Russland schreibt, wie es ist. Und wie es war. Auch vor 180 Jahren. Deshalb hassen die Russen Astolphe de Custine (1790–1857). Denn – so die Bilanz seiner ausgedehnten Reise durch Russland im Jahr 1839: „Sie werden sich schon dadurch beleidigt fühlen, dass ich ihrer Meinung nicht bin.“
Nicht zufällig lässt der russische Regisseur Alexander Sokurow noch 2002 in seinem Film „Russische Arche“, der der Geschichte der Eremitage als Gleichnis für Russlands Größe hymnisch huldigt, als einzigen Antagonisten einen miesepetrigen, schmähsüchtigen Westler auftreten, der als Spottfigur für einen bösartigen de Custine steht. Der Film, bemerkte ein Kritiker, „wird dadurch zu einer späten Rache für die Herabsetzung des heiligen Russland durch den westeuropäischen Besucher.“
Astolphe de Custine entstammte dem lothringischen Adel und hatte im diplomatischen Dienst an der Seite von Charles Talleyrand am Wiener Kongress (1814/15) teilgenommen. Wegen seiner Homosexualität von der besseren Gesellschaft gemieden, unternahm er zahlreiche Reisen nach England, Italien, Spanien und in die Schweiz. Die Erlebnisse verarbeitete er in Novellen, Romanen und Reiseberichten.
Das gilt auch für die Fahrt durch Russland, die ihn 1839 über St. Petersburg und Moskau nach Jaroslawl, Kostroma, Nischni-Nowgorod und Wladimir führte. „Ich ging nach Russland, um Argumente gegen die repräsentative Regierung zu suchen“, begründete de Custine das drei Monate dauernde Unternehmen. Schließlich waren sein Großvater, General der französischen Revolutionsarmee, der Mainz eroberte, und sein Vater Opfer der Guillotine geworden.
Aber am Ende gestand er konsterniert: Ich „komme als Anhänger der Constitutionen zurück“. Denn: „In Russland herrscht die Militär-Disziplin …, der Belagerungszustand als Normalzustand.“ Und: „Jede Missbilligung halten sie für einen Verrat; jede harte Wahrheit nennen sie eine Lüge.“ Schließlich: „In Russland ist einer, der lacht, ein Schauspieler, ein Schmeichler oder ein Betrunkener.“
Diese Urteile, so zeitgemäß sie klingen, liest man in den Reisebriefen des französischen Aristokraten „La Russie en 1839“. Es sei „das intelligenteste Buch, das je ein Ausländer über Russland geschrieben hat“, erklärte der russische Schriftsteller Alexander Herzen, der die Emigration in den Westen dem Leben unter dem Zaren vorzog. Es werfe „einen kritischen, aber ehrlichen Blick auf Russland“ hieß es erst jüngst in „Le Monde“.
In Russland war und ist man da ganz anderer Meinung. Seinerzeit und noch heute. Zar Nikolaus I., der de Custine empfangen hatte, soll es, nach der Lektüre nur weniger Seiten empört weggeworfen und ausgerufen haben: „Ich allein bin schuld; ich habe den Besuch dieses Schufts unterstützt und gefördert.“
Denn de Custine (1790-1857), dem nur das Wohlwollen St. Petersburgs die lange Reise erlaubte und ermöglichte, beschrieb, Erfreuliches keineswegs auslassend, dessen ungeachtet eingehend, wie sich dieses Leben abspielte: die allgegenwärtige Tyrannei des Hofes, den Hochmut des Adels, die Rohheit der höheren Stände gegenüber jeglichen Untergebenen, vor allem den Leibeigenen, die allgemeine Rechtlosigkeit und Resignation angesichts solcher Willkür. „Die Furcht und die Schmeichelei der Kleinen, der Stolz und der heuchlerische Edelmut der Großen sind die einzigen Gefühle, welche ich bei den Menschen, die unter der russischen Autokratie leben, für wirklich bestehend halte.“
All das verbunden mit einer Herrschaft der Lüge, des Misstrauens und des Totschweigens misslicher Zustände und Ereignisse. „Hier heißt Lügen, die Gesellschaft schätzen, wie die Wahrheit sagen gleichbedeutend ist mit: Den Staat umstürzen“, notiert de Custine. Weshalb jeder Ausländer, der das nicht akzeptiert, als Feind und Spion, eben als „ausländischer Agent“, betrachtet wird, der nur Übles im Sinn habe und die Größe Russlands nicht zu würdigen vermag.
Dass de Custines Buch, das 1843 erschien – und in Russland sofort auf dem Index landete –, diesem Selbstbildnis abträglich war, wurde schnell erkannt. Der russische Botschafter in Paris Pawel Kisseljow versuchte noch im selben Jahr, Honoré de Balzac, der 1843 einer verqueren Liebesaffäre wegen nach Russland reiste – und der bekanntlich unter argen Geldnöten litt – zu gewinnen, „eine Widerlegung des verleumderischen Buches des Monsieur de Custine schreiben zu lassen“. Aber daraus wurde nichts. Und de Custines Erfahrungen, in sechs Auflagen erschienen und mehrfach übersetzt, blieben auch in den Jahrzehnten danach einflussreich.
George F. Kennan, amerikanischer Botschafter in der Nachkriegs-Sowjetunion und danach Berater von John F. Kennedy, registrierte, vieles, was de Custine geschildert habe, sei weiterhin charakteristisch für das Land unter Stalin. Und ist es wiederum unter „Zar“ Wladimir Putin.
Deshalb wird, wer sich keinen Illusionen über das Land hingibt, gewiss nicht de Custines Schlusssatz widersprechen: „In Russland fehlt Allem und überall die Freiheit.“ Und dem fügte er – damals so zutreffend wie heute – noch den Ratschlag hinzu: „Ist Ihr Sohn unzufrieden in Frankreich, so wenden Sie mein Mittel an; sagen Sie ihm: Reise nach Russland.“