Neue Analysen von Apollo-Gestein zeigen: Der Protoplanet Theia entstand im inneren Sonnensystem. Forschende nutzten Reverse Engineering für den Nachweis.

Erde und Theia kurz vor dem Crash: Der apokalyptische Zusammenstoß formte den Mond.
Foto: Smarterpix / Juric.P
Es ist ein Szenario, das an Dramatik kaum zu überbieten ist: Vor rund 4,5 Milliarden Jahren raste ein Himmelskörper von der Größe des Mars auf die junge Erde zu. Der Einschlag war katastrophal. Er veränderte nicht nur die Rotation und den Aufbau unseres Planeten dauerhaft, sondern schleuderte auch Unmengen an Material ins All. Aus diesen Trümmern formte sich unser ständiger Begleiter, der Mond.
Dieses Ereignis gilt in der Wissenschaft als weitgehend gesichert. Doch eine entscheidende Unbekannte blieb in den Modellen der Astrophysik und Geologie bestehen: Wer oder was war Theia? Aus welchem Bereich unseres Sonnensystems stammte dieser Protoplanet? Die Antworten auf diese Fragen sind essenziell, um die geochemische Geschichte der Erde zu verstehen.
Eine aktuelle Untersuchung, die am 20. November 2025 im Fachmagazin Science erschien, liefert nun eine technisch fundierte Erklärung. Forschende unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung (MPS) und der University of Chicago wendeten eine Methode an, die Ingenieuren vertraut sein dürfte: ein chemisches Reverse Engineering.
Die Kollisionstheorie und ihre Lücken
Die Hypothese eines gigantischen Einschlags dominiert die Diskussion seit Jahrzehnten. Erstmals in den 1970er-Jahren formuliert, erlangte sie 1984 auf einer Konferenz auf Hawaii breite wissenschaftliche Akzeptanz. Sie löst elegant ein physikalisches Problem: Kein anderer Planet im Sonnensystem besitzt im Verhältnis zu seiner eigenen Größe einen derart massereichen Mond wie die Erde.
Modelle zeigen, dass der Zusammenstoß etwa 150 Millionen Jahre nach Bildung des Sonnensystems stattfand. Theia wurde dabei vollständig zerstört. Das Material vermischte sich mit dem der Erde oder kondensierte im Orbit zum Mond. Doch genau hier beginnen die Probleme für die Analytik. Da Theia physisch nicht mehr existiert, fehlen direkte Proben. Die Wissenschaft ist auf Indizien angewiesen.
Isotope als chemischer Fingerabdruck
Um den Ursprung Theias zu bestimmen, nutzten die Forschenden die Isotopenanalyse. Isotope sind Varianten chemischer Elemente, die sich in der Anzahl ihrer Neutronen und somit in ihrer Masse unterscheiden. Im frühen Sonnensystem waren diese Isotope nicht homogen verteilt. Je nach Entfernung zur Sonne gab es unterschiedliche Mischungsverhältnisse. Ein Körper, der am Rande des Sonnensystems entstand, besitzt daher eine andere isotopische Signatur als ein Objekt aus Sonnen-Nähe.
„In der Zusammensetzung eines Körpers ist seine gesamte Entstehungsgeschichte archiviert, auch sein Entstehungsort“, erklärt Thorsten Kleine, Direktor am MPS und Koautor der Studie.
Das Ziel war also klar: Man muss die chemischen Fingerabdrücke in heutigem Erd- und Mondgestein finden und daraus die Zusammensetzung des Impaktors errechnen. Dafür untersuchte das Team 15 Proben von irdischem Gestein sowie sechs Proben von Mondgestein, welche die Astronauten der Apollo-Missionen zur Erde brachten. Der Fokus lag auf Eisenisotopen, ergänzt durch Daten zu Chrom, Titan und Zirkonium.
Das Problem der chemischen Zwillinge
Die Ergebnisse der Messungen bestätigten zunächst ein bekanntes Phänomen, das die Planetenforschung seit langem frustriert: Erde und Mond sind sich chemisch zu ähnlich. Die Isotopenverhältnisse sind praktisch deckungsgleich. Es gibt keinen offensichtlichen „fremden“ Anteil im Mondgestein, der direkt auf Theia hindeutet.
Dies lässt verschiedene Schlüsse zu. Entweder entstand der Mond fast nur aus Erdmaterial – was physikalisch schwer zu modellieren ist – oder Theia und die Erde waren sich von Anfang an extrem ähnlich. Eine dritte Möglichkeit ist eine derart gründliche Durchmischung beider Körper beim Aufprall, dass alle Unterschiede nivelliert wurden. Um dieses Patt aufzulösen, griffen die Forschenden zu einem rechnerischen Trick.
Reverse Engineering eines Planeten
Da eine direkte Messung von Theia unmöglich ist, modellierte das Team den Prozess rückwärts. Sie nahmen die bekannten Endzustände (heutige Erde und Mond) und simulierten verschiedene Startbedingungen. Dabei spielten sie unzählige Kombinationen durch: Wie muss die Urerde zusammengesetzt gewesen sein und wie Theia, um exakt die heutigen Messwerte zu erzeugen?
Hierbei machten sich die Forschenden die unterschiedlichen chemischen Eigenschaften der Elemente zunutze. Eisen verhält sich anders als etwa Zirkonium.
Lange vor dem Einschlag hatte auf der Erde bereits die Differenzierung eingesetzt. Schwere Elemente sanken ins Zentrum und bildeten den Kern. Elemente wie Eisen oder Molybdän reicherten sich dort an und verschwanden weitgehend aus dem Gesteinsmantel. Das Eisen, das wir heute im Erdmantel finden, muss also größtenteils nach dieser Kernbildung hinzugekommen sein – importiert durch den Einschlag von Theia.
Andere Elemente wie Zirkonium verbinden sich nicht mit Eisen und verblieben im Mantel. Sie liefern daher Informationen über die gesamte Historie, nicht nur über den späten Eintrag durch Theia. Durch den Vergleich dieser unterschiedlichen „Archive“ – Elemente, die den Kernbildungsprozess mitmachten, und solche, die ihn ignorierten – konnte das Team die Zusammensetzung Theias einkreisen.
Theia war ein Nachbar der Erde
Die Berechnungen schlossen viele Szenarien als unplausibel aus. Was übrig blieb, zeichnet ein klares Bild der Herkunft.
„Das überzeugendste Szenario ist, dass der Großteil des Baumaterials von Erde und Theia aus dem inneren Sonnensystem stammt. Erde und Theia dürften Nachbarn gewesen sein“, so Timo Hopp, Wissenschaftler am MPS und Erstautor der Studie.
Die chemische Signatur Theias entspricht demnach sogenannten nichtkohlenstoffhaltigen Meteoriten. Diese Objektklasse bildete sich im inneren Sonnensystem, etwa innerhalb der Marsbahn. Theia stammt also nicht, wie manche ältere Theorien vermuteten, aus den kalten, wasserreichen Regionen des äußeren Sonnensystems.
Die Daten deuten sogar auf eine noch spezifischere Verortung hin. Die Analysen legen nahe, dass Theia Anteile von Material enthielt, das wir von heutigen Meteoriten kaum kennen. Die Forschenden verorten den Ursprung dieses Materials noch näher an der Sonne als die Umlaufbahn der Erde. Theia kam also quasi von „innen“, nicht von „außen“.
Ein gewaltiger Mischvorgang
Die Studie stützt auch die These eines extremen Kollisionsverlaufs. Die Tatsache, dass Erde und Mond heute isotopisch kaum unterscheidbar sind, lässt sich am besten mit einer fast vollständigen Vermischung erklären.
Dies passt zu früheren Untersuchungen am Isotop Wolfram-182. Hier zeigen sich zwar winzige Nuancen zwischen Erde und Mond, doch das Gesamtbild bleibt homogen. Der Aufprall muss so gewaltig gewesen sein, dass sich das Material beider Himmelskörper in einer gigantischen Wolke aus Dampf und Gestein bis auf die atomare Ebene vermengte.
Die Vorstellung, dass der Mond ein „Stück“ der Erde ist, ist somit nur die halbe Wahrheit. Vielmehr sind sowohl die heutige Erde als auch der Mond das Produkt einer Verschmelzung zweier planetarer Nachbarn. Die Erde, wie wir sie kennen, existiert erst seit diesem Einschlag. Vor 4,5 Milliarden Jahren absorbierte unser Planet seinen Nachbarn Theia – und der Rest wurde zum Mond.
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