Hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich mich nicht für Leipzig als Geburtsort entschieden«, erzählt Sandra* am Telefon, während im Hintergrund ihr Partner Nadeem die gemeinsamen weinenden Babys beruhigt. Nadeem kommt aus Südasien, seine Identität sei nicht zweifelsfrei nachweisbar und deshalb wird den Kindern keine Geburtsurkunde ausgestellt, hat die Sachbearbeiterin aus der Urkundenabteilung des Leipziger Standesamtes entschieden.

»Eine Geburtsurkunde hat eine Gateway-Funktion«, erklärt Sophie Funke vom Institut für Menschenrechte in Berlin. »Sie ist das zentrale Dokument in Deutschland, um die Identität eines Menschen zu belegen.« Sie ist zum Beispiel nötig, um Kindergeld zu beantragen, ein Kind im Kindergarten anzumelden, ein Konto zu eröffnen oder einen Ausweis zu beantragen, um zu heiraten oder auch, um die Zulassung als Ärztin zu beantragen.

Normalerweise wird die Identität der Eltern durch das Vorlegen ihrer Geburtsurkunde nachgewiesen. Nach einem Gerichtsurteil des Oberlandesgerichts Hamm von 2021 ist dafür auch ein gültiger Reisepass ausreichend. Im Falle von Nadeem nützte das nicht: Zum Zeitpunkt der Prüfung durch das Standesamt Leipzig lag sein Reisepass bei der Ausländerbehörde in Berlin. Bei einer Polizeikontrolle hatten die Beamten festgestellt, dass Nadeem ausreisepflichtig war und übergaben den Fall an die Ausländerbehörde an seinem Wohnsitz. Weil seine Vaterschaft für die Zwillinge allerdings schon durch das Jugendamt Leipzig anerkannt war – damals noch mit seinem Reisepass –, konnte Nadeem in Deutschland bleiben und bekam einen Aufenthaltstitel. Bis dieser im Februar ausgestellt wurde, verblieb sein Reisepass in der Ausländerbehörde.

Beim Beantragen der Geburtsurkunden für die beiden Kinder legte er stattdessen eine Abschrift seiner Geburtsurkunde vor – ein Original hätte er nur bekommen, wäre er selbst in sein Heimatland gereist, was ohne Pass nicht ging. Außerdem legte er eine Kopie seines Reisepasses bei und verwies auf die Ausländerbehörde in Berlin, wo das Original zu dem Zeitpunkt lag. Nach mehr als zwei Monaten teilte die Standesbeamtin in Leipzig der Familie mit: Bei seiner Geburtsurkunde könne sie die Echtheit nicht zweifelsfrei beurkunden und habe deshalb entschieden, dass die Identität des Vaters nicht nachweisbar sei, die Kinder also keine Geburtsurkunde bekämen. »Es war überhaupt keine Kommunikation mit dem Standesamt möglich«, erzählt Sandra. »Man nahm unsere verschiedenen Unterlagen entgegen – die Daten des Vaters überall exakt gleich. Dann kam – ohne Rücksprache, ohne Nachfrage – plötzlich die Nachricht, dass die Identität nicht geklärt sei.« Sie habe den Umgang der Sachbearbeiterin mit ihnen als sehr überheblich empfunden, es sei kein Gespräch möglich gewesen, kein Entgegenkommen, auch kein Sacharbeiterwechsel. »Es fühlte sich an wie ein permanenter Kriminalisierungsvorwurf nach dem Motto: Du fälschst doch Dokumente so wie jeder Ausländer. Und ein Reisepass sagt noch gar nichts.« Kurz nach der Geburt eine extreme Belastung für die Familie.

Das Standesamt Leipzig gibt an, dass die Ausstellung von Geburtsurkunden bei der vollständigen Vorlage aller Unterlagen derzeit etwa zehn Arbeitstage dauert und ein Personalausweis oder Reisepass als Identitätsnachweis ausreicht. Grundlage für alle Überprüfungen sei das Personenstandsgesetz. Die Zusammenarbeit mit dem Ausländeramt und anderen Standesämtern sei außerdem erforderlich und werde praktiziert. Die Vaterschaftsanerkennung sei bei der Identitätsklärung jedoch nicht ausschlaggebend.

Das Recht auf eine Geburtsurkunde ist im Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt. Dort heißt es: »Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.« Die Geburtsurkunde ist zwar nicht explizit genannt, das Recht darauf ergibt sich aber daraus, dass viele staatsbürgerliche und Menschenrechte erst mit einer Geburtsurkunde wahrgenommen werden können – ebendas, was die Konvention durchsetzen soll. Der Deutsche Bundestag hat die Konvention 1992 ratifiziert und sich damit völkerrechtlich verpflichtet, sie umzusetzen. Deutschland wurde für seine oft schleppende Umsetzung der Registrierung schon mehrfach gerügt – häufig geht es dabei um Fälle, in denen ein oder beide Elternteile nicht aus Deutschland kommen.

Der Gang vor Gericht

Helfen kann in solchen Fällen nur noch das Amtsgericht, das gegenüber dem Standesamt weisungsbefugt ist. Entscheidet es, dass die Dokumente ausreichen, müsste das Standesamt die Geburtsurkunde ausstellen. Mit Unterstützung des Antidiskriminierungsbüros Leipzig entschieden sich auch Sandra und Nadeem für diesen Weg und reichten im März 2025 Klage ein. Folgt das Amtsgericht jedoch der Einschätzung der Standesbeamtin, könnten Sandra und Nadeem eine Vor-Ort-Überprüfung in seinem Heimatland in Auftrag geben. Dann forscht die deutsche Botschaft im jeweiligen Land nach, ob die Identität der Person zweifelsfrei festgestellt werden kann. Doch gerade dauert es laut Sandra zwei Jahre, bis das Verfahren überhaupt eröffnet werden kann. Die Überprüfung selbst kann dann noch mal bis zu eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen und kostet mehrere hundert Euro. Es könnte also sein, dass die Zwillinge bereits in die Grundschule kommen, bis sie Geburtsurkunden bekommen – von Kita-Platz, Kinder- und Elterngeld bis dahin ganz zu schweigen.

Nicht alle haben die zeitlichen und finanziellen Kapazitäten, um diesen Weg zu gehen. »Es gibt kaum Alternativen, wenn entsprechende Dokumente nicht verfügbar sind«, erklärt Sophie Funke vom Institut für Menschenrechte. »Das Gesetz eröffnet die Möglichkeit, dass Standesbeamt:innen zum Nachweis von Tatsachen der betroffenen oder einer anderen Person eine eidesstattliche Versicherung abnehmen.« Das passiere in der Praxis aber selten. Auch das Standesamt Leipzig verweist auf Nachfrage darauf, dass die eidesstattliche Erklärung im Sinne der Verhältnismäßigkeit nur als letztes mögliches Mittel dient. Grundsätzlich herrsche immer noch große Unwissenheit zu diesem Thema auf allen Seiten: bei Eltern, bei Beratungsstellen, aber auch bei Juristinnen und Standesbeamten. Falls die Geburtsurkunde nicht ausgestellt werden kann, gibt es die Möglichkeit, einen beglaubigten Auszug aus dem Geburtenregister zu beantragen. »Aber in der Praxis sehen wir, dass er bei staatlichen Stellen wie der Familienkasse oder bei Kitas immer noch nicht ausreichend bekannt ist und die Geburtsurkunde verlangt wird«, erzählt Funke. Außerdem hat er Grenzen, etwa, wenn die Kinder eingebürgert werden sollen oder als Erwachsene selbst heiraten wollen. So führt das Fehlen einer Geburtsurkunde oft zu generationsübergreifenden Problemen, die immer weitergegeben werden.

Seit 2009 ist der beglaubigte Auszug aus dem Geburtenregister der Geburtsurkunde gleichgestellt. Allerdings kann er nicht für die deutsche Einbürgerung verwendet werden und auch bei späterer Heirat kann es zu Problemen kommen. Der Auszug soll für Rechtssicherheit sorgen, bis die Geburtsurkunde ausgestellt werden kann. In der Praxis zeigt sich, dass die Bemühungen um eine Geburtsurkunde mit Ausstellung des Auszugs jedoch oft nicht weiter verfolgt werden und die Kinder nie eine Geburtsurkunde bekommen.

Das besonders strenge Leipziger Standesamt

Die strikte Auslegung der Identitätsprüfung hat mehrere Gründe. So soll laut Personenstandsgesetz die Abstammung eines Kindes lückenlos dokumentiert werden, um eine Grundlage für Staatsangehörigkeit, Sorgerecht, Unterhaltszahlung und Erbansprüche zu bilden. Standesbeamte sind angehalten, eine Identität erst dann zu beurkunden, wenn alle Tatsachen zweifelsfrei nachgewiesen wurden. Gleichzeitig gibt es keine bundeseinheitlichen Richtlinien, jedes Standesamt entscheidet eigenständig. Und in Leipzig – berichten uns mehrere Quellen unabhängig voneinander – scheint die Auslegung besonders streng zu sein.

»In der ganzen Zeit, in der ich hier arbeite, habe ich es noch nie geschafft, dass für eines der Kinder eine Geburtsurkunde ausgestellt wurde«, erzählt eine Sozialarbeiterin, die in einer Leipziger Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete arbeitet. Besonders schlimm seien die langen Wartezeiten, die damit verbundene Unsicherheit und die Intransparenz der Behörde. Manchmal käme bis zu ein Jahr lang keine Antwort auf Anfragen: weder auf die der Familien noch auf die der Sozialarbeiter. Viele Menschen in der Unterkunft seien unter Extrembedingungen nach Deutschland gekommen, etwa mit dem Boot über das Mittelmeer und hätten deshalb nicht die passenden Dokumente dabei. »Manche trauen sich auch nicht in die Botschaft ihrer Herkunftsländer«, erzählt die Sozialarbeiterin. »Die Beamten wirken selten bemüht, eine Lösung zu finden.« Auf menschlicher Ebene gestalte sich die Zusammenarbeit schwierig. »Bei anderen Behörden gibt es solche und solche. Da erzählen die Menschen auch oft mal von einem netten Gespräch. Über das Sachgebiet Geburten im Standesamt habe ich noch nie etwas Positives gehört.« Familien hätten ihr erzählt, dass sie von den Beamtinnen und Beamten teilweise angeschrien wurden.

Dafür habe sie die Erfahrung gemacht, dass der Auszug aus dem Geburtenregister zumindest in der Leipziger Praxis gut funktioniert. Außer beim Thema Aufenthaltsstatus seien ihr keine Nachteile bekannt. Aber trotzdem: Viele Familien geben beim Kampf um die Geburtsurkunde irgendwann auf. »Wir sind auch resigniert. Neben unserer täglichen Arbeit haben wir keine Kraft mehr, auch noch politische Kämpfe auszufechten.«

2024 wurden in Leipzig 5.932 Neugeborene beim Standesamt angemeldet. Davon konnten für 421 Kinder keine Geburtsurkunde ausgestellt werden, weil bei mindestens einem Elternteil die Identität nicht nachgewiesen werden konnte. Im selben Jahr wurden 366 Geburtenregisterauszüge statt einer Geburtsurkunde ausgestellt.

»Lange wurde die Problematik der Geburtsurkunden als Einzelfall abgetan«, erzählt Sophie Funke vom Institut für Menschenrechte. Es gibt keine bundesweiten Zahlen, wie viele Kinder es tatsächlich betrifft. Aber sowohl Funke als auch all unsere Gesprächspartnerinnen und -partner aus Leipzig betonen, dass es sich bei Sandras und Nadeems Fall nicht um einen Einzelfall handelt. Dazu kommt vermutlich eine hohe Dunkelziffer an Menschen, die sich gar nicht erst Hilfe bei Beratungsstellen suchen. »Es bräuchte Härtefallregelungen. Außerdem Informationen und Sensibilisierung von Beratungsstellen, Standesbeamt:innen, Eltern und Jurist:innen«, fordert Funke im Namen des Instituts für Menschenrechte. Das Referat Migration der Stadt Leipzig hat besonders seit 2015 ebenfalls erhöhte Fallzahlen festgestellt und bietet deshalb seit 2019 Informationsveranstaltungen für Mitarbeitende von Fachberatungsstellen in diesem Bereich an, um über rechtliche Grundlagen und die Verfahrensweise des Standesamtes zu informieren. Mit diesem und weiteren Akteuren dieses Bereichs hätte bereits in der Vergangenheit ein Austausch stattgefunden.

Das Amtsgericht urteilt im Sinne der Familie

Währenddessen hat sich Sandras und Nadeems Hartnäckigkeit gelohnt. Das Amtsgericht hat in ihrem Sinne entschieden und festgestellt, dass die Identität des Vaters sehr wohl durch den Reisepass und die Geburtsurkunde nachgewiesen werden kann. Im Gerichtsurteil, das dem kreuzer vorliegt, heißt es: »Es besteht seitens des Gerichts keinerlei Veranlassung, an der Echtheit bzw. der inhaltlichen Richtigkeit der vorgelegten Urkunden zu zweifeln.« Eine weitergehende Prüfung sei weder erforderlich noch zulässig. Das Standesamt habe trotz Aufforderung des Gerichts keine Stellungnahme zu dem Fall abgegeben.

»Das war für uns noch mal eine Bestätigung, wie unnötig der Prozess war«, erzählt Sandra. »Ich bin erleichtert, dass es so ausgegangen ist. Gleichzeitig regt sich mein Gerechtigkeitssinn. Es muss sich am System etwas ändern, denn so vielen anderen geht es ähnlich wie uns.« 

> Unterstützung in solchen Fällen bietet zum Beispiel das Antidiskriminierungsbüro an: www.adb-sachsen.de

*Zum Schutz aller Beteiligten wurden Namen und biografische Details in diesem Text verändert.