Am Ende war der Verkehrskreisel Claudie d’Arcy von Marseille komplett voll, so viele Menschen sind am Samstagnachmittag gekommen für eine Hommage an Mehdi Kessaci, für ein letztes Geleit. 6000 Menschen, vielleicht noch mehr, viele mit einer weißen Rose in der Hand. Absehbar gewesen war das nicht. Kundgebungen gegen die Narcos, wie die Franzosen die Drogenkartelle nennen, hatten in Vergangenheit selten viele Teilnehmer in Marseille. Die Angst, sich zu zeigen, war bei vielen immer größer. Diesmal nicht.
„Gerechtigkeit für Mehdi“, skandierten die Menschen immer wieder. In 25 weiteren Städten Frankreichs gab es ähnliche Versammlungen.
Es ist die Geschichte einer Tragödie, einer persönlichen zunächst, die die Franzosen seit ein paar Tagen aufwühlt. Mehdi Kessaci war 20, als er am vergangenen 13. November an diesem Kreisel im 4. Arrondissement von Marseille von zwei vermummten Personen auf einem Motorrad mit Schüssen in die Brust ermordet wurde. Er wollte Polizist werden, war eingeschrieben für das Aufnahmeverfahren. Die Tat war also kein Abrechnungsmord unter Rivalen. Die Ermittler vermuten, dass Mehdi Kessaci das Opfer eines Einschüchterungsmordes ist.
Kessacis Bruder kämpft gegen die Narcos
Eingeschüchtert werden sollte wohl sein zwei Jahre älterer Bruder, Amine Kessaci, ein bekannter Aktivist und Kämpfer gegen die Narcos. Und dazu alle anderen, die nicht schweigen mögen. Vor ein paar Monaten hatte die Polizei mitgehört, wie Leute der DZ Mafia, des mächtigsten Clan im Süden Frankreichs, über eine Ermordung von Amine Kessaci gesprochen hatten. Er wurde deshalb unter Polizeischutz gestellt, wird seitdem dauerbewacht. Und so töteten sie eben den kleinen Bruder, das war einfacher. So jedenfalls erklären sich das die Ermittler. Nach den Mördern wird gesucht.
Nach dem Mord an Mehdi Kessaci durch die Mafia trauern etwa 6000 Menschen mit dessen Bruder Amine Kessaci und der Mutter Ouassila Benhamdi Kessaci. (Foto: CLEMENT MAHOUDEAU/AFP)
Der Mordauftrag soll aus dem Gefängnis gekommen sein, von Amine O., dem inhaftierten Boss der DZ Mafia, 31, auch als „Mamine“, „Jalisco“ und „Nemesio“ bekannt. Er hat den Ruf, besonders brutal zu sein. Unter anderem wird er verdächtigt, vor fünf Jahren an einem Dreifachmord beteiligt gewesen zu sein. Dabei wurde auch ein Halbbruder von Amine und Mehdi umgebracht, der etwas ältere Brahim. Brahim war ein Dealer, ein Rivale, sein Tod war ein Abrechnungsmord. Sie fanden ihn in einem ausgebrannten Auto.
Der Tod von Brahim hat Amine dazu bewegt, sich dem Kampf gegen die Narcos zu verschreiben, gegen diese tödliche Plage, die sich in den Banlieues der Quartiers Nord von Marseille ausgebreitet hat – und nicht nur dort. Amine wurde zur Symbolfigur, bekannt über Marseille hinaus. Seine Vereinigung Conscience, Bewusstsein, ist eine besonders aktive. Seit ein paar Jahren engagiert er sich auch politisch, als Grüner. Bei den Parlamentswahlen im Sommer 2024 fehlten Amine Kessaci nur 800 Stimmen für einen Sitz in der französischen Nationalversammlung.
Für „Mamine“, den Boss der DZ Mafia, war Amine Kessaci auch deshalb zum wichtigsten Gegner geworden, weil der im kommenden Jahr im Prozess wegen des Dreifachmordes als Zeuge aussagen soll.
Drogenkriminalität
:Wie Frankreich jetzt die Narcos bekämpft
Die Drogenkartelle sind so mächtig geworden, dass der Innenminister von einer „Mexikanisierung“ des Landes spricht. Die Regierung greift zu neuen Mitteln, darunter einem Gefängnis nur für Drogenbosse.
Amine Kessaci will nicht schweigen. „Schweigen tötet“, sagte er. Seine Auftritte am Fernsehen haben den Franzosen das Herz zerrissen, weil er sich schuldig fühlt für den Tod seines kleinen Bruders. „In diesem Sarg sollte ich sein“, sagte Amine Kessaci. Er war es, der zur Kundgebung am Kreisel aufrief. Gekommen sind auch viele prominente Politiker aus Paris.
Ein solcher Einschüchterungsmord ist in Frankreich neu
Diese dramatische Familiengeschichte wirft ein Schlaglicht auf ein lang verdrängtes Phänomen, womöglich dient es sogar als Weckruf. Solange sich die Narcos vor allem untereinander töteten, etwa im unerbittlichen Verdrängungskrieg zwischen der DZ Mafia und dem unterlegenen Clan Yoda im Jahr 2023, schauten noch viele weg: 49 Abrechnungsmorde gab es in jenem Jahr in Marseille. Man sagte sich, mit viel Zynismus, sie gehörten zum Geschäft.
Doch einen Einschüchterungsmord wie den an Mehdi Kessaci hat es in Frankreich noch nie gegeben. Ein Kippmoment sei das, heißt es nun. Die Gefahr, die dem Staat aus dem Drogenhandel erwachse, sei vergleichbar mit der des Terrorismus, sagte Justizminister Gérald Darmanin vorige Woche bei einem Besuch in Marseille. Und wie man seit den Attentaten in Paris 2015 gegen den Terrorismus kämpfe, müsse man es jetzt auch gegen die Drogenbanden tun.
Bereits zirkuliert der Begriff des „Narco-Terrorismus“. Es ist ein Schlagwort der Politiker, es soll die Wahrnehmung im Volk schärfen. „Die Angst darf nicht gewinnen“, sagte Marseilles linker Bürgermeister Benoît Payan am Rand der Kundgebung.
Frankreichs Problem mit dem Drogenhandel ist längst nicht nur ein Problem von Marseille. Acht von zehn Gemeinden des Landes sind von dem Phänomen betroffen, das ergab eine Studie des französischen Rechnungshofs 2024. Große Städte, mittlere, kleine, sogar Dörfer. Der Markt ist groß: Die Kartelle setzen fünf bis sechs Milliarden Euro im Jahr um, vor allem mit Kokain. Geschätzte 1,1 Millionen Franzosen konsumieren die Droge, quer durch die Bevölkerung. Immer wieder gelingt es der französischen Polizei, eine Kokainlieferung abzufangen, vor allem in den Häfen. Allein in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres waren es 37,5 Tonnen. Über das wahre Ausmaß des Handels lässt sich nur spekulieren.
Früher dachten die Franzosen, eine veritable Drogenmafia gebe es nur anderswo, in Kolumbien etwa, in Mexiko, in Italien. Von Italien will man nun lernen. Im Sommer hat eine breite Mehrheit im Parlament einem Paket von Gesetzen zugestimmt, die den Kampf gegen das Organisierte Verbrechen polstern sollen. Bald wird es in Frankreich eine eigene Staatsanwaltschaft für die Bekämpfung der Clans geben, angelegt an die italienische Anti-Mafia-Pools. Die Gesetze sehen unter anderem ein neues Konzeugensystem vor, auch dafür ließen sie sich von den Italienern inspirieren. Ohne pentiti, Reumütige, wie man in Italien die Kronzeugen nennt, ist der Kampf gegen geschlossene Kartelle nicht zu gewinnen.
In Frankreich gibt es nun erste Hochsicherheitsgefängnisse für Drogenbosse, sogenannte „Narco-prisons“. Nötig wären etwa 500 oder 600 Zellen, 350 stehen schon bereit. Ziel ist es, dass die Insassen nicht mehr mit draußen kommunizieren können, dass sie ihre illegalen Geschäfte nicht mehr aus dem Gefängnis weiterführen, wie das bisher oft der Fall war: über reingeschmuggelte Handy. Amine O., der mutmaßliche Auftraggeber des Mordes an Mehdi Kessaci, wurde erst vor ein paar Tagen aus einer normalen Haftanstalt im Burgund in eines dieser Hochsicherheitsgefängnisse verlegt. In seiner Zelle war ein Mobiltelefon gefunden worden.
Justizminister Darmanin gab nun die Losung aus: null Handys im Gefängnis. Doch wie wahrscheinlich ist das? Im vergangenen Jahr wurden 80 000 Handys beschlagnahmt in Frankreichs Gefängnissen, sagte Darmanin vor ein paar Tagen im Fernsehen. Es brauche dringend große Investitionen, um die Haftanstalten insgesamt besser zu sichern, etwa auch mit Netzen, die über die Innenhöfe gespannt würden. Denn zuweilen kommen die Handys offenbar mit Drohnen, wenn die Häftlinge Hofgang haben.
Zum Abschluss der Kundgebung für Mehdi Kessaci erhoben die Teilnehmer beide Hände in die Luft. Tausende Hände. Als Zeichen des Widerstands.
