Anfang November nähert sich ein zunächst unbekanntes Schiff den britischen Hoheitsgewässern. Mehrere Tage bleibt es in der Nordsee vor der schottischen Küste. Schnell ist klar: Bei dem Schiff handelt es sich um die „Yantar“, eines der modernsten und berüchtigtsten Spionageboote Russlands.

Schließlich steigt ein britischer Militärflieger zur Beobachtung auf. Was dann passiert, beschreibt der britische Verteidigungsminister John Healey bei einer Pressekonferenz am Mittwoch als „brandgefährliche Provokation“. Von der „Yantar“ aus werden Laser auf die britischen Piloten gerichtet, um sie zu blenden.

Es kommt zwar niemand zu Schaden, doch Healey macht klar: Sollte sich das Schiff weiter in Richtung britischer Küste bewegen, „sind wir bereit, militärische Mittel einzusetzen“.

Die „Yantar“

© AFP/Dan Rosenbaum/Royal Navy

Die „Yantar“ (oder „Jantar“) ist 2015 von Russland in den Dienst gestellt worden und gilt offiziell als Forschungsschiff. Tatsächlich ist es aber Teil der russischen Spionageflotte und wird regelmäßig an verschiedenen Orten der Welt gesichtet.

Das Schiff ist etwa 108 Meter lang und hat 60 Mann Besatzung. An Bord soll sich auch ein kleines U-Boot befinden.

Großbritannien fühlt sich durch Russland bedroht. Berichten zufolge gehen britische Geheimdienste inzwischen sogar davon aus, dass das Vereinigte Königreich die USA als russischen Staatsfeind Nummer eins abgelöst hat, nicht zuletzt wegen der Annäherung und der Gespräche zwischen den Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin.

„Sie können Trump derzeit nicht öffentlich kritisieren“, zitiert der Londoner „Guardian“ den früheren britischen Militärattaché in Moskau, John Foreman. „Wem gibst du also die Schuld für Rückschläge, für Verluste in der Ukraine? Dem Nächstbesten, den Briten.“

Auch die Sicherheitsexpertin Samantha de Bendern vom britischen Thinktank Chatham House bezeichnet Großbritannien im Gespräch mit dem Tagesspiegel als „Russlands Hauptfeind“.

Samantha de Bendern ist Fellow beim britischen Thinktank Chatham House. Zuvor arbeitete sie unter anderem für die Europäische Kommission und die Nato.

Tatsächlich gibt es kaum ein Land, das seit der russischen Vollinvasion im Februar 2022 so eng an der Seite der Ukraine steht. London hilft Kyjiw kontinuierlich mit Informationen, Geld sowie Waffen und unterstützt Sanktionen gegen Moskau.

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Doch worin besteht die Gefahr für Großbritannien? „Es wird sicherlich keinen konventionellen Angriff oder gar den Versuch einer Invasion geben“, sagt Militäranalyst James Rogers dem Tagesspiegel. Vielmehr bestehe die Gefahr unter anderem in russischen Desinformationskampagnen und Cyberangriffen.

Nach offiziellen Angaben gab es in Großbritannien in den vergangenen zwei Jahren rund 90.000 Vorfälle, hinter denen russische Aktivitäten stecken sollen. Zwölf Prozent aller Cyberattacken aus Moskau richten sich demnach gegen das Vereinigte Königreich.

James Rogers ist Mitbegründer des Thinktanks Council of Geostrategy und berät die britische Regierung und das Parlament immer wieder bei verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen.

Die zweite Gefahr sind Sabotageakte. Das könnte auch Aufgabe der „Yantar“ sein. „Sie ist dafür ausgerüstet, in Friedenszeiten zu spionieren und in Krisenzeiten zu sabotieren“, sagte Verteidigungsminister Healey am Mittwoch.

90

Prozent des gesamten Datenaustausches zwischen Großbritannien und dem Rest der Welt läuft über Seekabel.

Das Schiff soll in der Lage sein, Pipelines und Tiefseekabel zu beschädigen oder sogar zu durchtrennen. Für die britischen Inseln sind das aber Lebensadern – und relativ ungeschützte noch dazu, auch das führt die „Yantar“ den Briten vor Augen.

Neunzig Prozent des gesamten Datenaustausches zwischen Großbritannien und dem Rest der Welt laufen über Seekabel, darunter tägliche Finanztransaktionen mit den USA in Höhe von sieben Milliarden Pfund. Angriffe auf diese Infrastruktur könnten zu weltweiten Turbulenzen führen, immerhin ist London der wichtigste Finanzplatz Europas.

Das Vereinigte Königreich hat über Jahre nicht in sein Militär investiert.

Samantha de Bendern, Verteidigungsexpertin

Die größte Bedrohung aber – da sind sich die Experten einig – ist ein russischer Angriff auf ein Nato-Land. Das würde dann auch für Großbritannien als Mitglied des Bündnisses Krieg bedeuten. Einer Yougov-Umfrage aus dem Februar zufolge halten 52 Prozent der Briten ein solches Szenario für wahrscheinlich.

Doch es gibt Zweifel, ob das Land auf einen sich verschärfenden Konflikt mit Russland überhaupt vorbereitet ist. „Das Vereinigte Königreich hat über Jahre nicht in sein Militär investiert“, sagt Expertin de Bendern. Gerade die Luftverteidigung sei „völlig unzureichend“.

Zudem fehle eine „konventionelle Abschreckung“. Zwar ist Großbritannien neben Frankreich die einzige Atommacht Europas. Doch „die Schwelle für den Einsatz ist so hoch, dass Atomwaffen als Abschreckung nahezu nutzlos sind“, sagt de Bendern.

Großbritannien hat zwar Atomwaffen, aber sonst nichts, um gleichwertig und angemessen auf russische Provokationen zu reagieren.

James Rogers, Militäranalyst

Militäranalyst Rogers sieht das ähnlich. „Russland hat die Eskalationsdominanz. Großbritannien hat zwar Atomwaffen, aber sonst nichts, um gleichwertig und angemessen auf russische Provokationen zu reagieren“, sagt er.

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Milliarden Pfund sollen in neue Sprengstoff- und Munitionsfabriken investiert werden.

Doch das soll sich ändern. Im Juli hat die britische Regierung einen neuen Verteidigungsplan vorgestellt. Die Militärausgaben sollen steigen, allein für das aktuelle Haushaltsjahr wurden zusätzliche 2,2 Milliarden Pfund eingeplant.

Nun zeigen sich erste Folgen. Am Mittwoch präsentierte Minister Healey das Vorhaben zum Bau von neuen Fabriken. Erstmals seit Jahrzehnten sollen dort wieder eigene Sprengstoffe und Munition hergestellt werden. 1,5 Milliarden Pfund (1,7 Milliarden Euro) sind dafür vorgesehen.

Ebenfalls in dieser Woche eröffnete das deutsche Unternehmen Helsing einen britischen Standort, an dem KI-gestützte Unterwasserdrohnen entwickelt werden sollen. Diese könnten gezielt gegen die russische Schattenflotte eingesetzt werden und Sabotageakte verhindern.

Der britische Verteidigungsminister John Healey (rechts) bei der Eröffnung des neuen Werks von Helsing.

© REUTERS/Cpl Tim Hammond

Außerdem wurde der Kauf von zwölf F-35A-Kampffliegern angekündigt. Diese modernen Bomber aus US-Produktionen können auch Atomwaffen tragen.

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Allein,, das betonen Experten, wird sich Großbritannien aber nicht schützen können – und der engste Verbündete, die USA, ist derzeit ein eher schwieriger Partner. Nicht zuletzt auch deswegen wurde im Mai ein neuer Sicherheits- und Verteidigungspakt mit der EU unterzeichnet, die Großbritannien noch 2020 verlassen hatte.

Wichtigstes Bündnis bleibt allerdings die Nato. „Sollten sich die USA hier etwas zurückziehen, wird die Lage kompliziert“, sagt Militärexperte Rogers. „Dann wäre schnell eine erhebliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben nötig.“

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An der britischen Unterstützung für das westliche Verteidigungsbündnis hat Rogers keinen Zweifel. „Aber worüber es im Land derzeit noch keinen Konsens gibt, ist die Frage, wann und ob Großbritannien mehr tun muss, um unabhängiger von den USA zu werden“, sagt er.