Ein Chemtrail weist den Weg
23. November 2025. Diesmal steht ihr Name drauf: Nachdem die britische Dramatikerin Lucy Kirkwood die deutsche Erstaufführung ihres Verschwörungstheoretiker-Stücks noch unter einem Pseudonym versteckt hatte, inszeniert Jan Bosse jetzt mit offenen Karten. Verwirrend wird es trotzdem.
Von Martin Thomas Pesl

„Entrückt“ von Lucy Kirkwood in der Regie von Jan Bosse in Wiesbaden © Lukas Anton
23. November 2025. „The rapture!“ Der englische Ausruf erfolgt in einer Art rauschhafter Erwartung, Christus höchstselbst zu begegnen. Weit weniger für beseeltes Exklamieren eignet sich das deutsche Wort „Entrückung“. Und doch passt der Titel „Entrückt“ ganz gut zu Corinna Brochers Übersetzung des 2022 im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführten Dramas „Rapture“ der Britin Lucy Kirkwood. Folgt der Text doch einem Paar, das sich über ein Jahrzehnt hinweg in Verschwörungsnarrative von Chemtrails bis Corona hineinsteigert.
Die deutschsprachige Erstaufführung fand 2024 am Staatstheater Cottbus statt. Angekündigt worden war damals ein Stück mit dem Titel „Verblendet“ von einem gewissen Dave Davidson. Das war von der 1984 geborenen Dramatikerin vorgesehen und wurde auch bei der Uraufführung so gehandhabt, „That Is Not Who I Am“ lautete da der Fake-Titel. Es sollte der Eindruck erweckt werden, der wahre Stückinhalt sei so brisant, dass die Autorin, die sich selbst als Figur hineingeschrieben hatte, ihn lieber nicht an die große Glocke hängen wolle.
Angelegt darauf, Fallen zu stellen
Nun lässt sich so ein Versteckspiel pro Aufführungssprache nur einmal spielen. In Jan Bosses Wiesbadener Version ist vom Autor Dave Davidson also keine Rede mehr. Die „Autorin“ im Stück gibt es aber weiterhin, und dass die Schauspielerinnen-Schwestern Maria und Klara Wördemann nicht wirklich Lucy Kirkwood sind (schon gar nicht beide), die vermeintlich hier präsentierte „Doku“ also erfunden ist, steht zu jedem Zeitpunkt außer Zweifel.
Auf der Suche nach den Chemtrails: Laura Talenti als Celeste Greer © Laura Nickel
Womit das Grundproblem des Abends identifiziert wäre. Kirkwoods Konzeption ist darauf ausgelegt, Fallen zu stellen. Zumindest die Naiveren im Publikum sollen spüren, was es heißt, nicht mehr zu wissen, was man glauben kann. Wenn sich hier am Ende das Staatstheater offiziell von den Enthüllungen Kirkwoods über das unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene Paar distanziert („Sie wurden ermordet!“), ist das ebenso eine Pose wie der plötzlich ausbrechende Streit der beiden Lucys. Im Original tritt eine von beiden überhaupt erst kurz vor Schluss auf. Die Regie konnte wohl einfach der Versuchung nicht widerstehen, eineiige Zwillingsschwestern in derselben Rolle zu besetzen.
Über britische Dinge
Was den Zuschauenden also ganz real den Boden unter den Füßen wegziehen sollte, bleibt hier eine bequem aus der Ferne beobachtete Beziehungsgeschichte, in Dialogen, die, typisch britisch, gut geschrieben sind, aber eben auch von britischen Dingen handeln. Die in London omnipräsente CCTV-Überwachung kommt vor, im Lockdown wird die Downing Street zur Partyzone. Noah Quilter war vielleicht, vielleicht auch nicht mit Prinz Harry auf der Schule. Er lernt Celeste Greer über den Matching-Algorithmus einer Dating-App kennen, gleich beim ersten Dinner klickt es trotz ihrer Nervosität und seiner schlechten Witze.
Verwickeltes Verwirrspiel mit Kostümen von Kathrin Plath © Lukas Anton
Mit Jan Bosse haben die seit der vorigen Spielzeit agierenden Intendantinnen einen weiteren großen Regienamen für Wiesbaden gewonnen. Dank ihm darf sich das schwierige Kurstadtpublikum von formalen Kunstanspruch Ersan Mondtags oder Marie Schleefs erholen, dafür bekommt es sauberes Handwerk und Gesellschaftsrelevanz. Bosse beginnt den Abend in der Tradition des neuen angloamerikanischen Theaters mit einer leeren Bühne. Je häuslicher – und entrückter – Noah und Celeste werden, desto mehr wird an Baugerüsten und Pappkartons hereingeschoben, ein Bild für ihre früh einsetzende Verwahrlosung. Mal ist sie es, die sich auf irgendeine Theorie im Netz versteift, mal er. Während Noah sein eigenes Drehbuch mit dem Titel „State of Awake“ verfilmt, arbeitet Celeste als Krankenschwester und erlebt das Versagen des britischen Gesundheitssystems. Sie kriegen ein Kind.
Perfekte Paar-Chemie
Obwohl den beiden zur Lösung der Weltprobleme auch nur wirre Schlagwörter einfallen, akquirieren sie mit Online-Videos eine große Gefolgschaft – entledigen sich dann aber aus Paranoia jeder Digitalität (wie übrigens auch die Regie, deren Verzicht auf Videoeinsatz angesichts des Stoffs geradezu radikal anmutet). Jemand, vermutlich ein Nachbar, hat die Familie heimlich überwacht, deshalb gibt es jetzt Zehntausende Stunden an „Quilter-Tapes“. Die Lucys zeigen uns ihre Schnittfassung des Materials und kommentieren es, schreiben manisch Daten und wahllose Stichwörter auf die Treppenaufgänge zur Bühne, während der Thriller, den sie sich zusammenreimen, immer abstruser wird.
Dass man ihm trotzdem im Wesentlichen gern folgt, liegt an den Quilters: Laura Talenti und Lennart Preining. Die Chemie des jungen Paares stimmt so perfekt, dass man einen kleinen Chemtrail zwischen ihnen zu bemerken meint.
Entrückt
von Lucy Kirkwood, Deutsch von Corinna Brocher
Inszenierung: Jan Bosse, Bühne: Stephane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Komposition: Arno Kraehahn, Dramaturgie: Sophie Steinbeck.
Mit: Lennart Preining, Laura Talenti, Klara Wördemann, Maria Wördemann.
Premiere am 22. November 2025
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
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