Zwischen den vielen Schreckensnachrichten finden die Menschen in der Ukraine am Wochenende nur selten kleine Momente der Ablenkung. Im Telegram-Kanal Charkiw Life etwa können sie jetzt sehen, dass an der Metro-Station Universität der große Weihnachtsbaum fast fertig ist, dicht geschmückt mit dicken weißen Kugeln. Ansonsten aber: Luftalarm in der Nacht, Luftalarm wieder aufgehoben, ein kurzes Video von einem roten Baggerarm, der in Nord-Saltiwka ein zerstörtes Wohnhochhaus abreißt, weil es nicht mehr zu reparieren ist: 2300 weinende Emoji-Gesichter. Alltag im Osten der Ukraine.

Nicht einmal die aus ukrainischer Sicht wenigen positiven Meldungen der vergangenen Stunden können die Stimmung herumreißen: dass acht Ostseestaaten die Ukraine weiterhin mit Waffen beliefern wollen, dass Präsident Wolodimir Selenskij sich beim niederländischen Ministerpräsidenten Dick Schoof für ein Energiepaket bedankte, das gerade auf dem Weg in die Ukraine sei. Selenskij hat es selber am Samstag in einer Videobotschaft gesagt: „Es geht gerade um etwas Größeres als um die einen oder anderen Punkte des Dokuments.“ Er meinte den Plan, den die USA als „Friedensplan“ bezeichnen, der für den früheren ukrainischen Regierungschef Arsenij Jazenjuk jedoch „in Wirklichkeit ein Plan für eine schleichende Kapitulation ist“.

Der Plan einer Amnestie für alle am Krieg Beteiligten löst Empörung aus

Selenskij sagte, niemals dürfe in Europa und der Welt das Prinzip dominieren, „dass Verbrechen gegen Menschen und Menschlichkeit, gegen Staaten und Völker belohnt und vergeben werden“. Dies wäre nämlich der Fall, sollte die ukrainische Führung, in die Enge getrieben, die 28 Punkte des US-Plans akzeptieren. Zu den Verhandlungen nach Genf hat Selenskij als Leiter der Delegierten seinen Stabschef Andrij Jermak geschickt. „Sie wissen, wie man die ukrainischen Interessen verteidigt und was es braucht, damit Russland nicht ein drittes Mal einmarschiert“, sagte der ukrainische Präsident.

Es steht viel auf dem Spiel für sein Land. Etwas Hoffnung keimte auf in Kiew, als US-Präsident Donald Trump sein Ultimatum für den nächsten Donnerstag doch wieder aufhob. Und weil die wichtigen europäischen Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf das Trump-Lager einwirken wollen. Völlig fraglich wäre ohnehin auch, ob Russland sich überhaupt vorerst damit abfinden würde, mit einem Einfrieren der Kontaktlinie auf große Teile der Gebiete Cherson und Saporischschja zu verzichten, die es noch gar nicht kontrolliert. Denn der russischen Verfassung nach hat Moskau sich diese Gebiete bereits einverleibt.

Der ehemalige ukrainische Premier Jazenjuk, derzeit Leiter des Kiewer Sicherheitsforums, kritisiert im bisherigen Plan vor allem Sicherheitsgarantien, „die nichts garantieren“. Nur die Nato-Mitgliedschaft könne der Ukraine Sicherheit gewährleisten, oder aber „rechtsverbindliche Verträge mit gemeinsamen Militärstrukturen“, die auch den Einsatz ausländischer Kontingente vorsehen. All dies werde aber im Laufe des 28-Punkte-Plans gestrichen. Der Kreml würde jeden Einsatz der Ukraine mit westlicher Ausrüstung als Verstoß gegen das Abkommen interpretieren – „der perfekte Ausgangspunkt für russische Provokationen“, schreibt Jazenjuk in einem Beitrag für die Zeitung Ukrainska Prawda.

Entsetzt zeigen sich viele Menschen in der Ukraine. Eine Filmemacherin in Kiew, Lesya Khartschenko, schreibt der Süddeutschen Zeitung am Sonntag in einem Chat: „Die Stimmung hier ist sehr schlecht.“ Die meisten Menschen in ihrem Umfeld würden von Druck und Erpressung sprechen, „niemand ist für den Trump-Plan“, im Gegenteil: Die meisten würden ihn zurückweisen, schreibt sie.

Von „Verrat“ und „Kapitulation“ ist in der Ukraine immer wieder die Rede. Wolodimir Ariew, Abgeordneter der oppositionellen Partei Europäische Solidarität, sagte der Zeitung Kyiv Independent, der bisherige Plan würde nur dazu führen, dass Russland seinen Krieg gegen die Ukraine in einigen Jahren wieder aufnehmen werde. Dann „mit sehr viel größerer Stärke und mehr Ressourcen“, sagte er. Es gehe den USA doch jetzt nur darum, dass Trump den Krieg, der sich als der komplizierteste für ihn erwiesen hat, so schnell es geht beenden wolle. Um sich sein Image als Friedensschaffer zu sichern.

Besonders empört ist die ukrainische Zivilorganisation ICUV darüber, dass alle am Krieg Beteiligten vollständige Amnestie erhalten sollen. Mariupol, Butscha, „über eine Amnestie für die Gräueltaten zu diskutieren, bedeutet Verrat an den Interessen der Ukrainer“, sagte der Kiewer Zeitung die Leiterin der Organisation, Olena Haluschka. Gerechtigkeit könne nicht verhandelt werden, „und ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben“. Von Optimismus in der Ukraine kaum eine Spur.