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Die Quilters rufen ihre Follower zum Protest auf. © Lukas Anton
„Entrückt“, Lucy Kirkwoods Stück über Verschwörungserzählungen und die Covid-Zeit
am Staatstheater Wiesbaden.
Als Lucy Kirkwoods Stück „Rapture“ in London Uraufführung hatte, im Sommer 2022, war die Covid-19-Pandemie offiziell noch gar nicht überstanden, war jedenfalls die Erinnerung an die vielen Toten und herben Einschränkungen noch frisch, wurde schon diskutiert über die Angemessenheit dieser Maßnahmen. Es war auch bereits herausgekommen, Ende 2021, dass der damalige britische Premierminister Boris Johnson in Downing Street Partys gefeiert hatte, als sich nur zwei Personen treffen duften.
Wie schnell der Mensch verdrängt und vergisst, auch das ruft nun Jan Bosses Inszenierung von „Entrückt“ im Kleinen Haus des Staatstheaters Wiesbaden ins Bewusstsein. Der Bundestag mag im Juli die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Corona-Pandemie und Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse“ beschlossen haben – aber haben wir nicht andere Probleme?
„Blind date“ nennt die britische Tageszeitung „Guardian“ von ihm arrangierte Anbandelungstreffen, auf einem solchen funkt es sofort zwischen Celeste und Noah. Zu dir oder zu mir, ist eigentlich nur noch die Frage.
Dann sind sie auch schon bei ihm. In Wiesbaden hat Stéphane Laimé für die Quilters – Celeste und Noah heiraten alsbald – eine Pappkarton-Welt errichtet, eine Welt, die schwankt und wobbelt, die keine Sicherheit bietet, in der eine Schachtel in der Schachtel steckt wie bei einer Matrjoschka. Außerdem scheint es nicht ganz unbegründet, dass sie sich belauscht und überwacht fühlen. In ihrem Haus wohnt ein komischer Typ. Noah bekommt mysteriöse Anrufe. Und irgendwann bricht jemand in ihre Wohnung ein, verwüstet sie, stiehlt Noahs Festplatten mit den „Quilter-Tapes“ und seinem mahnenden, rebellischen Film „State of Awake“.
Quilter-Tapes? Das klingt irgendwie nach Epstein-Files. Bei der Uraufführung im Royal Court Theatre wurde, einem Wunsch der britischen Dramatikerin folgend, noch Verstecken gespielt, als wäre der Hintergrund real: „That Is Not Who I Am“ hieß die Ankündigung auf dem Spielplan, zu Beginn wurde ein Statement verlesen, wonach Kirkwood sich zu ihrer eigenen Sicherheit entschlossen habe, das Stück unter dem Pseudonym Dave Davidson herauszubringen.
In Wiesbaden ist sofort klar, dass „Lucy Kirkwood“ dazugehört und eine Rolle ist, indem Maria und Klara Wördemann als Lucy Kirkwood 1 und 2 auftreten. Die erklären, sie seien beauftragt worden, über die Quilters zu schreiben, die vielleicht ermordet wurden. Rechts und links stehen in Jan Bosses zweistündiger, pausenloser Inszenierung Tafeln, auf denen von Kirkwood 1 und 2 der zeitliche Verlauf und Stichworte notiert werden.
Sie trägt in der Arbeit nun einen Schutzanzug
Schon beim ersten Treffen spricht Celeste zwar kurz mal von „Chem-Trails“, doch keineswegs zeigt „Entrückt“ zwei Abgedriftete. Schließlich arbeitet Celeste als Schwester in der geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses, offenbar macht sie ihren Job gern und gut. Doch dann kommt eben die Pandemie, Menschen werden eingeliefert, die gerade noch fit und gesund wirkten, am nächsten Morgen tot sind. Noah muss seine Frau immer erst aus ihrem Schutzanzug schälen, wenn sie nach Hause kommt (er trägt dabei Handschuhe). Er geht kaum noch aus dem Haus, hat aber – seit er Celeste gedrängt hat mitzumachen – schon 800.000 Follower mit seinen leidenschaftlich politischen Videos.
Lennart Preining und Laura Talenti sind in Wiesbaden das ziemlich normale, ziemlich sympathische, aber doch auch bedrängte Paar (Kathrin Platz steckt sie in Alltagskleidung und T-Shirts mit Schlagworten drauf wie „f*ckd“). Celeste bleibt zuerst nichts anderes übrig, als für sie beide das Geld zu verdienen, während Noah schreibt. Dann verdient er Geld und möchte, dass sie kündigt – sie ist empört. Dann streiten sie sich, weil sie sich draußen mit einer Freundin treffen will.
Langsam verlieren sie die Nerven, beginnen an der Demokratie zu zweifeln, wollen andere zum Widerstand, zu einer großen Demo aufrufen – und haben jedenfalls Gründe dafür. Jan Bosse vernachlässigt nicht die leichte, auch lustigen Momente in Kirkwoods Stück, doch sie finden zwischen Pappmaché-Wänden statt und in einer Atmosphäre zunehmender Überwachung.
An den „No Kings“-Widerstand gegen Donald Trump muss man zuletzt denken, wenn das Paar in aufblasbare Froschkostüme schlüpft, wie es auf Demos in den USA vielerorts geschah. Sie nehmen eine Videobotschaft auf, sie sagen, sie müssen jetzt mal eine Weile verschwinden.
Aber sind sie nun ermordet worden oder war es ein Suizid? Das ist nicht so wichtig wie diese nuancierte und nuanciert inszenierte Geschichte zweier junger Leute, deren Unbehagen an der Gesellschaft und Verdacht gegen die Politik berechtigt sind. Und Krankenschwester Celeste hilft auch kein Applaus für ihren tapferen Corona-Einsatz.
Staatstheater Wiesbaden: 28. November, 13. Dezember, 2. Jan. staatstheater-wiesbaden.de