Statistiker reden ungern von Armut, sondern lieber von Armutsgefährdungsquote. Denn die lässt sich anhand der realen Einkommen berechnen. Ob sich die betroffenen Menschen dann tatsächlich als arm empfinden, ist eine andere Frage – und lässt sich eben nicht berechnen. Auch nicht mit einem starren Wert von 60 Prozent der Durchschnittseinkommen in einer Stadt wie Leipzig. Das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen (Median) betrug in Leipzig übrigens im Jahr 2024 rund 1.950 Euro und lag damit leicht über dem Vorjahreswert.

Was aber eben auch nichts darüber aussagt, wer eigentlich beim Einkommen zugelegt hat und wer nicht. Dazu kommt – so kann man im Bericht zur Bürgerumfrage 2024 lesen: „Trotz deutlicher Steigerungen in den letzten Jahren liegt das Leipziger Nettoäquivalenzeinkommen immer noch unterhalb des bundesweiten Werts von 2.175 Euro (2024).“

Aber schon hier wird deutlich, wie die Einkommen in Leipzig immer deutlicher auseinander laufen: „Bei Betrachtung der einkommensstärksten 20 Prozent aller Leipzigerinnen und Leipziger fällt die dynamische Einkommensentwicklung ab 2016 ins Auge. Demgegenüber konnten die einkommensschwächsten 20 Prozent zwar auch Einkommenszuwächse verbuchen, die monetäre Differenz zwischen beiden Gruppen wird in absoluten Beträgen jedoch immer größer. Betrug die Einkommensdifferenz zwischen dem oberen und unteren Quintil 2014 noch circa 1.100 Euro, waren es 2024 bereits rund 1.610 Euro.“

Die verschiedenen Armutsgefährdungsquoten in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2024Die verschiedenen Armutsgefährdungsquoten in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2024

Und auch die Einführung des Mindestlohns 2014 mit regelmäßigen Anpassungen auf 12,41 Euro pro Stunde und die Einführung des Bürgergeldes konnten die Entwicklung der absoluten Einkommensdifferenz zwischen den reichsten und ärmsten 20 Prozent nicht stoppen. Wer in schlecht bezahlten Jobs festhing, hat von den Einkommenszuwächsen fast nichts zu sehen bekommen.

Und das hat nun einmal mit Armut zu tun. Und zwar mit manifester Armut.

Armutsschwelle bei 1.171 Euro

„Die Schwelle, unter der Leipzigerinnen und Leipzig als armutsgefährdet gelten, bemisst sich – nach lokalem Konzept – bei 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens“, rechnen die Autor/-innen des Berichts zur Bürgerumfrage vor.

„Es ergibt sich ein Schwellenwert von 1.171 Euro (Kommunale Bürgerumfrage 2024). Betrachtet man hingegen den bundesweiten Median gemäß Mikrozensus 2024 (Erstergebnisse), liegt die Grenze bei 1.305 Euro. Beide Ansätze sind nachvollziehbar: Die Orientierung am lokalen Einkommensniveau ist insofern sinnvoll, als auch die Lebenshaltungskosten – insbesondere Mieten – stark von regionalen Gegebenheiten abhängen.

Zudem neigen Menschen dazu, ihr Einkommen und ihre Lebenssituation eher im Kontext ihres direkten sozialen Umfelds zu bewerten als im Vergleich zur gesamten Bundesrepublik. Daraus lässt sich ableiten, dass eine stadtbezogene Perspektive auf Armut durchaus plausibel ist (vgl. Eichhorn, Huter & Soyka, 2006).“

Aber selbst nach dem niedrigen lokalen Maßstab ergibt sich für Leipzig eine Armutsgefährdungsquote von 19 Prozent. Und das nicht nur auf bestimmte Alterskohorten bezogen, wie man in der Grafik (ganz oben) sehen kann. Zwar scheint die Armutsgefährdung bei den unter 30-Jährigen noch einmal deutlich höher. Aber das sind nun einmal die Jahrgänge, die noch in Ausbildung und Studium stecken und damit oft noch kein eigenes Einkommen haben.

Erst nach dem 25. Lebensjahr geht die Kurve dann tatsächlich auf den Leipziger Durchschnittswert herunter. Aber wenn selbst bei den 30-Jährigen eine Armutsgefährdungsquote von 18 Prozent ausgewiesen wird, weiß man, dass sich für eine ganze Leipziger Gruppe die Armut tatsächlich fürs Leben verfestigt.

Arm auch trotz Arbeit

Und einige Jahrgänge haben auch heute noch mit den heftigen Einschnitten der „Wende“-Zeit zu kämpfen. Das sind die heute älteren Erwerbstätigen, zu denen der Bericht feststellt: „Bereits vor dem 60. Lebensjahr steigt das Risiko, von Armut betroffen zu sein, erneut an und erreicht zwischen 65 und 69 Jahren aktuell seinen Höhepunkt. Erst bei älteren Rentnerinnen und Rentnern ist wieder eine geringe Armutsgefährdung zu beobachten.“

Nur: das wird so nicht bleiben. Denn immer mehr Leipziger treten mittlerweile mit so niedrigen Rentensätzen in den Ruhestand ein, dass sie entweder gezwungen sind weiterzuarbeiten oder beim Sozialamt um Grundsicherung anzustehen.

Und noch etwas stellt der Bericht fest: „Auch mit Erwerbsarbeit besteht ein – wenn auch geringeres – Armutsrisiko. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung spricht in diesem Zusammenhang von ‚inwork poverty.‘ Bundesweit waren 2018 rund 8 Prozent der Erwerbstätigen armutsgefährdet
in Leipzig lag dieser Anteil 2024 sogar bei 10 Prozent, sofern das Einkommen überwiegend aus Erwerbstätigkeit stammt.“

Für jeden zehnten Leipziger gilt also immer noch: arm trotz Arbeit.

Und auch hier verschärft sich die Lage, denn von den größeren Lohnzuwächsen der vergangenen beiden Jahre haben vor allem die sowieso schon hohen Einkommen profitiert. Unten im Keller hat sich hingegen die Lage nicht ein bisschen entspannt.

Mit den Worten aus dem Bericht: „Das heißt, die mittleren Einkommen und die Einkommen oberhalb der Mitte haben sich zwischen 2014 und 2024 besser entwickelt als die Niedrigeinkommen. Die Folge ist eine etwas zunehmende Ungleichheit, insofern Personen mit mittleren und hohen Einkommen eine bessere Entwicklung erfahren haben als Personen mit niedrigen Einkommen. Die Einführung des Mindestlohns (2015) und Bürgergelds (2023) haben diese Entwicklung nicht verhindert.“

Da braucht es also andere Rezepte. Aber die wird es wohl in einem Land, in dem das Verächtlichmachen von Bürgergeldbeziehern zum Volkssport geworden ist (und damit das Druckmachen gerade auf die miserabel Entlohnten) nicht geben. Sodass jetzt schon absehbar ist, dass sich das Armutsproblem in Leipzig wieder verschärfen wird. Eben bei den Leuten, die sich auch politisch nicht wehren können und spätestens mit ihrem Rentenbescheid erfahren, wie egal sie den Politikmachern in diesem Land sind.