VorlesenNews folgenArtikel teilen
Lynns Gesicht ist auf vielen Plakaten in Berlin zu sehen, doch was er erlebt hat, lässt sich nicht so leicht zeigen. Eine Kampagne bringt das Thema Intergeschlechtlichkeit auf die Straße – und ins Bewusstsein.
Inhaltshinweis: In diesem Beitrag werden Selbstverletzung, Gewalt und Suizid thematisiert.
Lynn trägt ein schwarzes T-Shirt, hat einen Vollbart und einen Iro-Haarschnitt. Er lächelt freundlich auf einem der Plakate, die derzeit vielerorts in Berlin hängen. „Ich bin eindeutig inter“ steht darauf. Inter, das ist die Abkürzung für intergeschlechtlich. So werden Menschen bezeichnet, deren angeborene körperliche Merkmale sich nicht (nur) weiblich oder (nur) männlich einordnen lassen.
Lynn ist eines der vier Gesichter einer Plakatkampagne des Berliner Senats für mehr Sichtbarkeit von inter Personen. Er kam intergeschlechtlich auf die Welt, mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Lynn bevorzugt das männliche Pronomen, aber das war nicht immer so. Seinen Namen gab er sich irgendwann selbst.
„Ich wurde mit einem Penis und einer Vagina geboren. Mit Hoden und Prostata, mit Eierstock und Gebärmutter“, erzählt Lynn. Seine Zellen weisen mal XX-, mal XY-Chromosomen auf. „Ich habe einfach alles und das ist sehr selten, selbst für intergeschlechtliche Menschen“, sagt der 40-Jährige.
Seit die insgesamt 828 Plakate in Berlin hängen, bekommt er regelmäßig Fotos von Bekannten und Freundinnen geschickt, die „sein“ Plakat an einem Bahnhof oder einer Plakatwand entdeckt haben. Anfangs war es für ihn etwas ungewohnt, die Bilder zu sehen, wie er schmunzelnd erzählt. „Alle sagen immer: ‚Oh, du siehst so süß aus‘. Aber ich weiß gar nicht, ob ich süß aussehen will.“ Schließlich ist Lynn die Front-Person einer Death-Metal-Band. Die Mitglieder von „Human Abyss“ versuchen sonst eher ein sehr grimmiges Bild abzugeben, mit Kunstblut im Gesicht.
Dass er in einer Death-Metal-Band singt, ist kein Zufall. Hier kann der 40-Jährige den Horror verarbeiten, den sein Leben über die ersten beiden Jahrzehnte für ihn bereithielt. „Death Metal ist für diese Art der Emotionen angemessen. Metal zu spielen macht mich frei und lebendig.“
Lynn ist die Front-Person der Death-Metal-Band „Human Abyss“. (Quelle: Häly Heinecker)
In seiner ersten Lebenshälfte lag die Kontrolle über Lynns Leben in den Händen von Ärzten. Was in seinem Fall nichts Gutes bedeutete. „Die Ärzte haben auf meine Intergeschlechtlichkeit sehr aggressiv reagiert“, sagt er. „Ich wurde erst mal meiner Mutter weggenommen und sofort in einen Brutkasten gesteckt, obwohl ich weder untergewichtig war noch ein Frühchen.“
Über die Jahre folgten mehrere Operationen, die Lynns Körper optisch an das weibliche Geschlecht angleichen sollten. Keiner dieser Eingriffe sei medizinisch notwendig gewesen, sagt Lynn. Seine Erfahrungen beschreibt er als tief traumatisch. „Mein Körper ist bis heute nachhaltig stark geschädigt.“ Eine Frage, die er oft hört, lautet: „Kannst du überhaupt Sex haben?“ Ja, kann er. Aber nicht ohne Schmerzen, wie er sagt.
Während die Ärzte für geschlechtliche Eindeutigkeit sorgen und ein Mädchen aus Lynn machen wollten, entwickelte sich sein Körper anders: Seine Wachstumskurve glich der eines Jungen. Doch die Ärzte sorgten dafür, dass er eine weibliche Pubertät durchlief, Regelblutungen inklusive. „Was in meinem unglaublich vernarbten Unterleib zu endlosen Schmerzen geführt hat“, sagt Lynn, der ohnehin unter starken Wachstumschmerzen litt. Er habe hochdosiertes Östrogen verabreicht bekommen.
Lynn bekam psychische Probleme. Er begann, sich selbst zu verletzen, „um seinen Körper zu bestrafen“, wie er sagt. Und er dachte immer wieder darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Tatsächlich sind inter Personen einem erhöhten Suizidrisiko ausgesetzt: Einer US-Studie aus dem Jahr 2024 zufolge gab über die Hälfte (55 Prozent) an, sich ernsthaft mit Suizidgedanken zu tragen.
Doch Lynn bekam mithilfe von Psycho- und Traumatherapie nach ein paar Jahren wieder Boden unter den Füßen. „Irgendwann gab es einen Tag, da wachte ich auf und es war Stille in meinem Kopf. Das fühlte sich gut an“, sagt er. Seitdem gehe es nur aufwärts.