Im Alten Rathaussaal wimmelt es am Sonntagabend von der ganzen Vielfalt, die diese Stadt zu bieten hat: Buddhistinnen sitzen im Publikum, Jesiden, Hindus, Sikhs, Angehörige der japanischen Tenrikyo-Glaubensgemeinschaft, vereinzelt entdeckt man Menschen mit Kopftuch, welche mit Turban. Allesamt sind sie Münchnerinnen und Münchner. Die, die an diesem Abend fehlen, sind es, die den Unmut von Alt-Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) zu fortgeschrittener Stunde so sehr erregen, dass er unangekündigt das Podium erklimmt, um das Wort zu ergreifen.

„Unzufrieden“ sei er, weil „der weiße Elefant, der hier riesengroß im Raum steht, nicht benannt wird“. Es geht Ude um die abwesenden Vertreter der beiden jüdischen Gemeinden der Stadt, der liberalen Beth Shalom und der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG). Letztere hat nach ursprünglicher Zusage vor wenigen Tagen die Teilnahme ihres Rabbiners Jan Guggenheim an dem Podiumsgespräch zurückgezogen, wie eingangs als Veranstalter der städtische Beauftragte für interreligiösen Dialog, Marian Offman, erläutert. Dabei ist der Abend überschrieben mit  „Gemeinsam in schwierigen Zeiten“. Im Mittelpunkt soll die Münchner Charta der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften stehen.

Grund der Absage, das deutet Offman, ohne Namen zu nennen, indirekt an, ist die Teilnahme eines anderen Diskutanten auf dem Podium: des Penzberger Imams Benjamin Idriz, gleichzeitig Vorsitzender des Münchner Forums für Islam. Gegen die Verleihung des Toleranz-Preises der FDP-nahen Thomas-Dehler-Siftung Ende Oktober an den Imam hatte sich unter anderem die IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch eingesetzt. Die Ehrung löste bundesweit eine Kontroverse aus. Expliziter wird erst Ude darauf zu sprechen kommen.

Davor gehört der Abend den vielen – vor allem glaubens- und weltanschaulichen Minderheiten – dieser Stadt. Und einige von ihnen, wie bei einer kurzen Vorstellungsrunde klar wird, haben ebenfalls mit Ressentiments zu kämpfen. „Es berührt mich sehr, dass wir heute hier in schwierigen Zeiten zusammenstehen“, begrüßt eingangs Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) die Gäste im bis zum letzten Platz gefüllten Alten Rathaussaal. Es werde viel zu selten auf das Gemeinsame geblickt, „das uns verbindet“.

An Dietls Büro angegliedert ist die Fachstelle für migrationsgesellschaftliche Diversität, die seit Jahren Kontakt aufbaut und hält zu den vielen Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Stadt, mit ihren ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. Denn, was viele nicht im Blick haben: Zwei Drittel der Münchnerinnen und Münchner sind weder katholisch noch evangelisch. SPD-Stadtrat Marian Offman, selbst Jude, ist seit 2021 ehrenamtlicher Beauftragter für interreligiösen Dialog.

Nicht alle blieben der Diskussion fern, mit dabei waren (von links): der evangelische Stadtdekan Bernhard Liess, Terry Swartzberg von J.E.W.S., der städtische Beauftragte für interreligiösen Dialog Marian Offman, Münchens Dritte Bürgermeisterin Verena Dietl und der Penzberger Imam Benjamin Idriz.Nicht alle blieben der Diskussion fern, mit dabei waren (von links): der evangelische Stadtdekan Bernhard Liess, Terry Swartzberg von J.E.W.S., der städtische Beauftragte für interreligiösen Dialog Marian Offman, Münchens Dritte Bürgermeisterin Verena Dietl und der Penzberger Imam Benjamin Idriz. (Foto: Robert Haas)

In dieser Eigenschaft hat er 2023 zusammen mit der Fachstelle die sogenannte Münchner Charta der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf den Weg gebracht. Zwölf Gruppierungen bekennen sich darin zu gemeinsamen Werten und dem deutschen Grundgesetz. Nach dem 7. Oktober 2023, als die Hamas das Massaker auf israelische Zivilisten verübt hat, wurde nach vielen Diskussionen in der Charta-Gruppe auch noch dieser Satz zur Erklärung hinzugefügt: „Wir lehnen insbesondere jede Form von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ab.“

Unterzeichner des Wertepapiers haben am Sonntag kurz ihre Gemeinschaft von der Bühne aus vorgestellt, darunter etwa die Alevitische Gemeinde München, der hinduistische Kulturverein Matri Mandir und die Jesiden. Erstmals tritt im Rathaussaal auch der Menschenrechtschor aller beteiligten Gemeinschaften auf und stimmt unter anderem Artikel 1 der Menschenrechtserklärung an: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

In einem kurzen Werbeblock dürfen ausgewählte Vertreter anschließend auf dem Podium erklären, welchen Beitrag ihre Gemeinschaft für die Stadtgesellschaft leistet und wo es noch Luft nach oben gibt. Der evangelische Stadtdekan Bernhard Liess, gleichzeitig Sprecher im Rat der Religionen München, nutzt die Gelegenheit, um an „kluge“ Religionspolitik in der Vergangenheit zu erinnern: „Man muss auch dem anderen zuhören und sich nicht die Köpfe einschlagen, sondern davon ausgehen, dass das Gegenüber vielleicht auch recht haben könnte und sein Glauben kein Unsinn ist.“ Benjamin Idriz mahnt „friedlichen, respektvollen Umgang“ an.

Kurzfristig ist Terry Swartzberg als jüdischer Vertreter eingesprungen. Er ist in seiner Funktion als Vorsitzender von „Jews Engaged With Students“, kurz J.E.W.S., auf dem Podium, einer Initiative der europäischen Juden, die mit Jugendlichen vor allem auch an Schulen über das Judentum und den Holocaust spricht. Der 72-Jährige, der seit zehn Jahren öffentlich Kippa trägt, wirbt für seinen positiven Ansatz gegen Diskriminierung: „Wir gehen zu den Menschen und bringen unser Judentum zu ihnen ohne Angst, mit Freude und Offenheit.“

Ein paar Minuten später steigt Alt-OB Ude auf die Bühne und spricht vom „weißen Elefanten“. Seit dem 7. Oktober 2023 sei das ehemals solidarische Klima unter den Münchner Religionen „anders“. Dass ausgerechnet dem „Repräsentanten einer Weltreligion“, die es in München hunderttausendfach gebe, seines Wissens dem einzigen Imam in Deutschland, der in den vergangenen Jahrzehnten jede Gewalttätigkeit von islamistischer Seite, jede Frauenfeindlichkeit schärfstens zurückgewiesen habe, eine Auszeichnung untersagt werden sollte, halte er für einen „blamablen Vorgang und Rückfall“. Dialogfähigkeit bedeute für ihn „in einen Austausch eintreten und nicht nur in einer feindseligen Abwehr verharren“.