Oliver Ruhnert war Sport-Geschäftsführer beim 1. FC Union Berlin. Jetzt wechselte er in die Politik, soll Generalsekretär des BSW werden. Er möchte Lehren aus dem Sport anwenden. Und äußert eine klare Meinung zur AfD und deren Wählern.
Im deutschen Fußball hatte er viele Positionen. Oliver Ruhnert war Leiter der Nachwuchsabteilung des FC Schalke 04, arbeitete seit 2017 erst als Chefscout, dann als Sport-Geschäftsführer mit großem Erfolg für den 1. FC Union Berlin. Mit dem Klubpräsidenten Dirk Zingler und dem damaligen Cheftrainer Urs Fischer prägte Ruhnert den Verein. Es gelang der märchenhaften Aufstieg von der zweiten Bundesliga bis in die Champions League.
Auf eigenen Wunsch übernahm Ruhnert danach wieder die Position des Chefscouts und ließ diese ab Januar 2025 ruhen, um sich auf seinen Wahlkampf für das Bündnis Sahra Wagenknecht zu konzentrieren. Jetzt steht der 54-Jährige davor, ein besonderes Amt zu übernehmen: Laut Partei ist er der Vorschlag der Spitze für den Bundesparteitag in Magdeburg.
WELT: Herr Ruhnert, was ist Ihr Antrieb, in die Politik zu wechseln?
Oliver Ruhnert: Die Entscheidung fiel mir sehr schwer. Am Ende war sie nicht gegen den Fußball – sondern für die Politik. Es treibt mich mein ganzes Leben an, für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Außerdem bin ich der Meinung, dass wir viele Politikerinnen und Politiker haben, die nicht wissen, was in diesem Land auf der Straße wirklich los ist.
WELT: Wie meinen Sie das?
Ruhnert: Ich weiß noch, wie viel Geld eine Tasse Kaffee beim Bäcker kostet, wo Obdachlose unter der Brücke leben. Allein in Berlin haben wir rund 6500 Menschen. Dazu fast 60.000 ohne Wohnung. Und die Zahlen steigen – bundesweit. Das ist erschreckend.
WELT: Welche Konsequenz befürchten Sie?
Ruhnert: Dass wir irgendwann Verhältnisse wie in den USA, Südafrika und anderen Ländern haben, in denen es abgesperrte Viertel gibt und Zugang nur mit bewachender Security. Und in den anderen Vierteln der Rest. Das ist eine Entwicklung, die mir große Sorge bereitet, weil soziale Ungleichheit wächst.
WELT: Im Jahr 2024 waren in Deutschland mehr als 17 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – darunter viele Kinder und Rentner. Inwieweit kann der Sport helfen?
Ruhnert: Der Sport hat eine große Lobby in der Gesellschaft, er verbindet – besonders auch der Fußball. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Kinder und Jugendliche etwa suchen sich die Fußball-Stars als Vorbilder aus, wollen ihnen nacheifern. Dazu kommt das Ehrenamt, allein der DFB hat mehr als acht Millionen Mitglieder. Darum verstehe ich bis heute nicht …
WELT: Was?
Ruhnert: Wieso Deutschland kein eigenes Sport-Ministerium hat. Das ist ein Wahnsinn. Ich finde, wir bräuchten ein solches, um der hohen Anzahl an Vereinen und Sporttreibenden gerecht zu werden. Im Innenministerium geht das unter.
WELT: Weil die neue Staatsministerin für Sport, Christiane Schenderlein (CDU), die eigentlich aus der Kultur kommt, einen schlechten Job macht?
Ruhnert: Nein, insgesamt gesehen.
WELT: Großes Diskussions-Thema ist das geplante Rentenpaket der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD.
Ruhnert: Wir können so nicht weitermachen, wir brauchen in der Rentenkasse mehr Geld, sonst bricht das System auf Dauer zusammen. Was ich für verrückt halte: In der ganzen Diskussion beschäftigen wir uns mit so vielen Themen, aber nicht mit den naheliegendsten: Warum zum Beispiel zahlen Beamte oder Politiker nicht in die Rentenkasse ein?
WELT: Bleibt die Junge Union beim Nein gegen die Rentenpläne der Koalition: Was würde das für Bundeskanzler Friedrich Merz bedeuten?
Ruhnert: Er wurde im ersten Wahlgang nicht zum Kanzler gewählt. Nicht zu vergessen seine Positionierung beim Thema Schuldenbremse. Erst war er in der Opposition dagegen, sie aufzuweichen, nach seiner Wahl zum Kanzler kippte er um. Das sorgte zurecht für viel Kritik. Jetzt steht die nächste Bewährungsprobe an: Wenn die eigenen Leute nicht zustimmen sollten, dann ist Friedrich Merz als Kanzler im Endeffekt überflüssig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Koalition funktionieren kann, wenn er keine Mehrheit in seiner Fraktion erhält.
WELT: Dem BSW wird Nähe zu Russland nachgesagt. Wie stehen Sie zum Krieg von Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine?
Ruhnert: Was die Nähe betrifft: Das ist und bleibt Unsinn! Wir haben eine Nähe zu politischen Lösungen und Frieden. Das geht nur mit Russland. Und wir bewerten Dinge anders, als es von vielen gewollt wird. Unvoreingenommen. Aber Russland hat das Völkerrecht gebrochen. Der Krieg bleibt das schlechteste Mittel. Immer! Ich glaube, es kann aber keinen Frieden geben, solange militärisch immer weiter aufgerüstet wird. Diesen schrecklichen Krieg zu beenden, das gelingt aus meiner Sicht nur über Diplomatie. Aber bisher wurde dafür nicht genug getan?
WELT: Was meinen Sie konkret?
Ruhnert: Natürlich wissen wir, dass die USA und Russland am Ende über viele Dinge entscheiden. Sie sind die entscheidenden Player. Aber es gibt Staaten wie China oder die Türkei und andere, die einen ganz anderen Zugang zu Russland haben als zum Beispiel wir Europäer. Das könnte helfen. Man muss es versuchen und nicht nur behaupten, es ginge alles nicht. Natürlich weiß ich, dass es schwierig ist, dennoch alternativlos.
WELT: Kann auch der Sport helfen?
Ruhnert: Natürlich kann auch die Sportpolitik dazu beitragen, dauerhaft für Frieden zu sorgen. Zum Beispiel, dass russische Athleten an Wettbewerben wie Olympischen Spielen oder Fußball-Welt- und Europameisterschaften wieder teilnehmen dürfen. Oder dass Russland künftig wieder Sport-Wettbewerbe durchführen darf. Dies in Aussicht zu stellen, verbunden mit der Forderung, dass zuerst der Krieg enden muss.
WELT: Wie ist Ihre Haltung im Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina?
Ruhnert: Wir müssen das Ende dieser humanitären Katastrophe herbeiführen. Wenn der Krieg komplett beendet ist, brauchen wir auf Sicht eine Zwei-Staaten-Lösung, weil es sonst in der Region nie einen dauerhaften Frieden geben wird. Palästina hat genauso ein Existenzrecht, wie es auch Israel zusteht!
WELT: US-Präsident Donald Trump hatte großen Anteil am Waffenstillstand in Nahost. Allerdings sorgt er auch sportpolitisch für Schlagzeilen, weil er sich bei der Organisation der Fußball-WM 2026 einmischt. Er droht demokratisch regierten Städten in den USA mit Entzug von Spielen, weil sie angeblich nicht sicher seien.
Ruhnert: Im Grunde ist das ein Wahnsinn. Wir reden über die USA, das Land, das für mich und viele Generationen immer Vorbild der Demokratie war. Für den Fußball ist das eine Katastrophe. Auch für Donald Trump hat zu gelten, dass Politik im Sport im direkten Einfluss nichts zu suchen hat. Ich bin gespannt, wie die Fifa reagiert? Aber das ist leider typisch für den US-Präsidenten.
WELT: Wie meinen Sie das?
Ruhnert: Er versucht ja auch, den Sport für seine Zwecke zu nutzen. Er tauchte vergangenen Sommer bei der Klub-WM plötzlich auf dem Sieger-Foto des FC Chelsea auf der Bühne auf und ging nicht wieder. Dabei ist er kein großer Fußball-Versteher (schmunzelt).
WELT: Zuletzt gab es in Leipzig eine Demonstration von Fußballfans, die sich vom Staat drangsaliert fühlen. Die Innenminister der Bundesländer wollen die Sicherheit in den Stadien erhöhen – unter anderem durch Gesichtsscanner. Wie stehen Sie dazu?
Ruhnert: Ich bin überrascht von den geplanten Verschärfungen, denn es gibt keine sachliche Begründung dafür. Der DFB bestätigte, dass die Stadien in Deutschland sicher sind. Darum kann ich die Fans für ihre Proteste verstehen. Es gibt genügend Gesetze und Möglichkeiten, Störenfriede und Randalierer zu entfernen – unter anderem durch Stadion-Verbote.
WELT: Das Bundesverfassungsgericht entschied Anfang 2025, dass die Bundesländer die Klubs an den Kosten bei Hochsicherheits-Risiko-Spielen beteiligen dürfen. Zurecht?
Ruhnert: Fußball ist ein Produkt, das in Deutschland eine unglaublich hohe gesellschaftliche Akzeptanz hat, den Städten an Spieltagen viel Geld in die Kassen spült und vielen tausenden Menschen Arbeit garantiert – nicht nur in den Klubs. Außerdem haben die Vereine die bestmögliche Sorgfalts-Pflicht in den Stadien zu garantieren – was sie in der Regel tun. Und dann gibt es den öffentlichen Raum, der den Ordnungsbehörden unterliegt.
WELT: Also der Polizei.
Ruhnert: Von daher ist es mir nicht plausibel, Fehlverhalten von Zuschauern außerhalb eines Stadions dem Verein zuzuschreiben. Viel mehr müssen die finanziell zur Rechenschaft gezogen werden, die randalieren, zerstören. Wenn ich als Bürger etwas mutwillig kaputtmache, dann muss ich auch dafür aufkommen. Recht und Ordnung durchzusetzen, ist Aufgabe der Behörden. Vereine müssen bestmöglich unterstützen.
WELT: Vor Jahren nutzte die rechtsradikale NPD die Fankurven in den Stadien, um Sympathisanten für sich zu gewinnen. Haben Sie Sorge, dass die AfD ähnlich vorgeht?
Ruhnert: Das habe ich früher auch erlebt, dass Nazi-Parolen in den Fankurven kein Tabu-Thema waren. Doch das hat sich geändert. Es wird immer mal wieder vereinzelnde Idioten geben wie etwa zuletzt beim Drittliga-Spiel 1860 München gegen Cottbus, als ein Spieler der Gastmannschaft rassistisch beleidigt wurde. Doch grundsätzlich tolerieren die Fan-Gruppierungen das nicht mehr – wie auch der Vorfall in München zeigte.
WELT: Viele Zuschauer skandierten: „Nazis raus.“
Ruhnert: Ja. Es hat grundsätzlich einen Wandel – auch durch die Arbeit der Fan-Projekte der jeweiligen Klubs – in den Stadien gegeben. Rassisten werden nicht mehr gedeckt. Zum Glück! Aber was Ihre Frage betrifft: Die AfD nutzt jede Nische, jedes Vakuum, das entsteht – angefangen vom Feuerwehrfest bis in die Fußballstadien. Doch ich halte die Fan-Projekte für stark und schlau genug, das zu erkennen und dagegen vorzugehen.
WELT: Wie stehen Sie zur AfD?
Ruhnert: Ich könnte mir im Leben nie vorstellen, so eine Partei zu wählen, in der nachweislich viele Faschisten sind. Aber ich sage: Ich bin für eine pragmatische Politik.
WELT: Das heißt?
Ruhnert: Wenn zwölf Millionen Menschen diese Partei wählen, dann kann ich nicht sagen, deren Anliegen interessieren mich nicht. Nein, man muss sich damit auseinandersetzen, was sie dazu bewegt, um sie zurückzugewinnen und um nicht weitere Wähler an die AfD zu verlieren.
WELT: Auch im Fußball geht es ja politisch zu: Waren Sie überrascht, dass ausgerechnet Bayern München sich in Person von Präsident Herbert Hainer für eine Gehalts-Obergrenze aussprach?
Ruhnert: Nein, weil die Bayern zurzeit in einer Situation sind, in der sie merken: Wir können vor allem mit den Engländern nicht mehr mithalten.
WELT: Aber ist das Verhalten nicht heuchlerisch, denn in Deutschland zahlen die Münchner mit Abstand die höchsten Gehälter?
Ruhnert: Aber sie messen sich ja aus ihrer Sicht nicht mit dem FC Heidenheim oder Union Berlin, sondern mit Arsenal London, Manchester City. Grundsätzlich halte ich einen Salary Cap für sinnvoll. Der müsste dann aber europaweit gelten.
WELT: Kehren Sie nochmals in den Profi-Fußball zurück?
Ruhnert: Man sollte nie nie sagen. Sollte der Fall eintreten, dann würde ich nicht mehr als Politiker arbeiten. Und es müsste ein Verein sein, der zu mir passt, in dem Fußball gelebt wird wie bei meinen zwei vergangenen Stationen Schalke 04 und Union Berlin – und nicht Klubs, in denen Fußball künstlich betrieben wird.