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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Europa sitzt auf der Zuschauertribüne der Geschichte und betrachtet ein zynisches Spiel, in dem es selbst der Einsatz ist. In der Ukraine heulen Nacht für Nacht die Sirenen, Raketen zerschmettern Wohnblöcke, ganze Landstriche verwandeln sich in Friedhöfe – und in Washington verhandelt man über einen „Friedensplan“, der in Wahrheit einem Kapitulationsformular nahekommt. Ein US-Präsident, der „Deals“ höher schätzt als geltendes Recht, hat der ukrainischen Regierung ein Papier zugespielt, das die Forderungen des Aggressors im Wesentlichen übernimmt und diese als vernünftig verkauft. Moskau nickt zufrieden, Kiew ringt um Luft – und Europa? Darf im Nachgang ein paar Änderungswünsche an den Rand kritzeln und hoffen, dass es am Ende nicht ganz so schlimm kommt wie befürchtet.

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Das ist die eigentliche Zumutung dieses Moments: nicht nur die Brutalität Russlands, nicht nur die Skrupellosigkeit Donald Trumps, sondern die Schwäche eines Kontinents, der sich jahrzehntelang eingeredet hat, Sicherheit sei ein Naturzustand. In Europa hielt man Frieden für eine Art klimatisierte Wohlfühlzone: immer da, immer angenehm, bezahlt von anderen. Also sparte man die Armeen klein, mottete Panzer ein, degradierte Geheimdienste zu nachrangigen Behörden. Man glaubte an die sanfte Macht von Verträgen, an die Magie verflochtener Wirtschaftswege, an das beruhigende Gesäusel der eigenen Sonntagsreden. Aber jetzt, da es nach bald vier Jahren des Tötens um die Nachkriegsordnung geht, steht Europa da wie ein Gymnasiast, der das Abitur in höherer Mathematik ablegt, nachdem er jahrelang stolz darauf war, nie die Hausaufgaben gemacht zu haben.

Europäische Anführer auf dem G20-Gipfel in Johannesburg.Vergrößern des BildesEuropäische Anführer auf dem G20-Gipfel in Johannesburg. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Das Ergebnis ist verheerend. Am Tisch, an dem über Land und Leben, über Grenzen und Garantien gefeilscht wird, sitzen Washington und Moskau. Peking hört mit, Delhi kalkuliert im Hintergrund. Die Europäer dürfen gelegentlich anrufen, höflich intervenieren, „Bedenken anmelden“. Aber auf keinen Fall Onkel Donald verärgern, er könnte ja sonst ungehalten werden. Autoritäre Staaten wie Russland, China und Indien haben längst begriffen, dass der alte Kontinent zwar gern moralisierende Reden schwingt, aber nur noch selten durchsetzt, was er sagt. Wer sich auf russisches Gas stützt, während er Sanktionen predigt, wer auf amerikanische Soldaten vertraut, während er eigene Verteidigungsetats zusammenstreicht, der sendet ein klares Signal: Er nimmt sich selbst nicht ernst – warum sollten andere es tun?

So degradiert sich Europa selbst zum Spielball und wundert sich auch noch darüber. Die Demokratie, die sich für das Maß aller Dinge hielt, steht am Rand: wirtschaftlich angreifbar, sicherheitspolitisch abhängig, politisch zersplittert. Während Autokraten Fakten schaffen, diskutiert man in Brüssel über Fußnoten und Klagerechte für das russische Auslandsvermögen. Man zankt sich um Rechtsverordnungen, während in der Ukraine Städte verschwinden. Man beschwört die „europäischen Werte“, während man weiterhin Geld für fossile Brennstoffe an den Aggressor überweist. Das ist nicht nur widersprüchlich. Es ist selbstzerstörerisch.

Die Ukrainerin Tetiana zeigt ihrer zehn Monate alten Tochter Sofia ein Foto ihres Vaters, der an der Front getötet wurde.Vergrößern des BildesDie Ukrainerin Tetiana zeigt ihrer zehn Monate alten Tochter Sofia ein Foto ihres Vaters, der an der Front getötet wurde. (Quelle: Evgeniy Maloletka/AP)

Was tun? Will Europa seine Sicherheit, seinen Frieden und seinen Wohlstand erhalten, reicht das Repertoire aus Empörung, Resolutionen und mahnenden Tweets nicht mehr. Der Kontinent muss endlich ERWACHSEN werden. In einer konfliktbehafteten Welt ist das so anstrengend und aussichtsreich wie im echten Leben.

Erwachsen bedeutet: Es braucht eine Verteidigungsunion der Willigen, ein Kern-Europa, das seine Armeen, seine Rüstungsbeschaffung und seine Sicherheitsapparate zusammenlegt, statt sie eifersüchtig zu fragmentieren. Deutschland, Frankreich, Polen und die skandinavischen Länder sollten vorangehen. Wer partout blockieren will, wie Ungarn und Spanien, darf draußen bleiben und später anklopfen.

Erwachsen heißt auch: die unangenehme Wahrheit akzeptieren, dass Sicherheit viel kostet – nicht abstrakt, sondern konkret. Es braucht sehr viel mehr Geld fürs Militär, für die Cyberabwehr, für Geheimdienste. Und ja, dieses Geld wird aus Haushaltsposten kommen müssen, die bisher als sakrosankt galten, vom Rentenzuschuss bis zum Bürgergeld. Wer glaubt, man könne zugleich maximale soziale Wohltaten verteilen und die Verteidigung des eigenen Lebensmodells an andere Länder outsourcen, verwechselt den Wohlfahrtsstaat mit einem Wunschkonzert. Die Friedensdividende ist vervespert, heute stehen Sicherheitskosten auf der Rechnung.

Auch Zumutungen für die Bürger gehören zur Mündigkeit. Zwar kann sich die gegenwärtige Duckmäuserkoalition nicht dazu durchringen, doch jeder hellsichtige Beobachter erkennt, dass es wieder eine echte Wehrpflicht braucht, besser noch eine allgemeine Dienstzeit für alle – Männer wie Frauen. Abzuleisten wahlweise bei der Bundeswehr, im Zivilschutz, in der Kranken- oder Altenpflege. Die Finnen machen vor, wie eine Gesellschaft Resilienz erlangt, ohne in Säbelrasseln auszuarten. Freiheit ist eben keine Konsumleistung, sie ist der höchste Wert, und den gibt es nirgendwo kostenlos. Ein Kontinent, der in seinem Nachwuchs nur noch Fachkräfteanwärter oder Instagram-Sternchen statt Bürgern in Verantwortung sieht, verzichtet auf das stärkste Sicherheitsinstrument, das er hat: das Bewusstsein, dass die eigene Ordnung verteidigt werden muss – notfalls mit mehr als Worten.

Dafür braucht Europa eine Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient. Keine Koordinierungsübung der nationalen Eitelkeiten, sondern eine gemeinsame Linie, der die nationalen Egoismen untergeordnet werden. Dazu gehört eine EU-Außenbeauftragte, die nicht bloß erklärt, was andere beschlossen haben, sondern Entscheidungen durchsetzen kann. Ein Kontinent, der 500 Millionen Menschen und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt repräsentiert, darf sich nicht länger verhalten wie eine überdimensionierte Nichtregierungsorganisation.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat viele Ideen, aber wenig zu sagen.Vergrößern des BildesDie EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat viele Ideen, aber wenig zu sagen. (Quelle: Geert Vanden Wijngaert/AP)

Schlussendlich sollten die EU-Länder für den Fall, dass in der Ukraine wirklich ein kalter Frieden einzieht, ein Wagnis eingehen: eine Initiative, die den Blick wieder auf Russland richtet, ohne dem Kreml erneut in die Falle zu tappen. Das Putin-Regime ist mafiös, verbrecherisch, brutal – aber nicht ganz Russland ist so. Wer das ganze Land zur Terra non grata erklärt, schneidet sich von der Zivilgesellschaft ab, die trotz Repressionen existiert, von Universitäten und Forschungseinrichtungen, von Unternehmen, die nicht von Sanktionen betroffen sind, von Intellektuellen und Künstlern. Auch lokale Eliten in entlegenen Regionen mögen Interessen hegen, die sich nicht mit den imperialen Fantasien des Kremls decken. Dort kann Europa diskret anknüpfen, ohne Illusionen, aber mit langem Atem. Die deutsche Blauäugigkeit der Gas-Jahrzehnte darf nicht wiederkehren. Doch ein Dialog, der auf eigener militärischer Stärke und politischer Geschlossenheit beruht, könnte – im besten Sinne Willy Brandts – zu einer wirklich stabilen Friedensordnung in Osteuropa beitragen.

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