Gastkommentar

Arthur Krön

Die Spannung zwischen nationaler Identität und realpolitischer Vernunft lässt sich auflösen. Es braucht dazu eine Neuausrichtung der europäischen Idee.

Es gibt eine Vielfalt an Traditionen, die gemeinsam Europas vorchristliche Mythologie, das römische Erbe und die christliche Prägung verkörpern – so etwa das Krampus-Fest im Alpenraum.Es gibt eine Vielfalt an Traditionen, die gemeinsam Europas vorchristliche Mythologie, das römische Erbe und die christliche Prägung verkörpern – so etwa das Krampus-Fest im Alpenraum.

Andrej Tarfila / SOPA / Getty

Fürsprecher der europäischen Einigung begegnen Nationalbewusstsein oft mit Unverständnis oder gar Verachtung. Es wird als rückwärtsgewandtes und irrationales Hindernis auf dem Weg zu einer aufgeklärten und «inklusiven» kontinentalen Ordnung gesehen. Europa müsse auf der Überwindung nationaler Gefühle aufgebaut werden.

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Dieser Ansatz ist verkehrt. Er beruht auf einer Verkennung der europäischen Staatengeschichte, und er läuft auf eine Art des forcierten und ahistorischen Einigungsprozesses hinaus, der zum Scheitern verurteilt ist. Europas Vergangenheit zeigt, dass sein Gesellschaftsmodell tief in den nationalen Identitäten wurzelt, und sie lässt keinen Zweifel daran, dass politische Einigungsbewegungen einer gemeinsamen Identität bedürfen.

Linke Täuschung, rechte Illusion

Während von links die Kraft der nationalen Identität unterschätzt wird, verleugnen rechtsnationale Anhänger eines «Europas der Vaterländer» die Notwendigkeit der politischen Einigung – selbst wenn diese im Interesse der europäischen Vielfalt stattfindet. In Zeiten, in denen amerikanische Konzerne weltweit über mehr Einflussmöglichkeiten verfügen als viele europäischen Staaten und in denen Krieg nicht länger nur zu Lande, in der Luft und zur See, sondern auch im Weltraum und im Cyberspace geführt wird, ist das fatal.

Der europäische Nationalstaat als solcher ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Das Beharren rechtsnationaler Kräfte auf Kleinstaaterei in der Konfrontation mit Weltmächten gefährdet gerade jene Lebensweisen und Traditionen, die sie zu bewahren vorgeben.

Diese Spannung zwischen nationaler Identität und realpolitischer Notwendigkeit lässt sich lösen – durch eine Neuausrichtung der europäischen Idee. In ihrer heutigen Form beruft sie sich meist auf die kühle Ratio der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik sowie die hohen Ideale der Völkerverständigung und Menschenrechte. Das ist löblich und historisch verständlich. Allerdings fehlt diesem die Emotionalität, ein gefühlter und geteilter Wesenskern, den es brauchen würde, um Europa in einen handlungsfähigen Akteur auf der Weltbühne zu verwandeln – mit gemeinsamen europäischen Streitkräften, tiefgreifenden demokratischen Institutionen und einer kohärenten europäischen Aussenpolitik.

Mehr Europa – aus Vaterlandsliebe

Um die notwendige innere Kraft zu entwickeln, muss die europäische Idee auf dem Nationalbewusstsein der Europäer aufbauen. Die europäische Identität, die es für mehr politische Einigung braucht, könnte dann aus der Liebe der Europäer zu ihren nationalen Gemeinschaften und Traditionen erwachsen.

Die Grundlagen dafür existieren bereits. Die Nationen sind ein gemeinsames Erbe Europas, und unsere einzigartige Beziehung zu ihnen ist Teil dessen, was uns Europäer verbindet und ausmacht. Nirgends sonst auf der Welt wird nationale Identität so praktiziert – auf engstem Raum in Frieden und Freiheit zusammenlebend, getragen von einer einzigartigen Vielfalt weit zurückreichender nationaler und staatlicher Traditionen.

Das europäische Nationalbewusstsein gründet dabei auf zwei Pfeilern. Der eine besteht aus einer unbedingten Bindung zu einer bestimmten Geografie, einer kulturell und historisch gewachsenen Gemeinschaft und einem kollektiven Gedächtnis. Dieser Pfeiler ist meist untrennbar verbunden mit einem zweiten: dem aufgeklärten Wunsch, freier Staatsbürger zu sein. Ohne Ersteren fehlt dem Staat das gemeinschaftliche Fundament; ohne Letzteren endet man alsbald in der Despotie.

Diese Kombination aus gefestigtem, aber entspanntem Selbstverständnis und offenem, aufgeklärtem Bürgertum ermöglichte jene Errungenschaften, die bis heute Europas gesellschaftliche und politische Grundlage bilden. Die Nation und ihre tiefgreifende innere Solidarität waren wegbereitend für den innerstaatlichen Sozialvertrag. Der säkulare Charakter des Nationalismus und seine zivilreligiöse Macht ermöglichten die Trennung zwischen Kirche und Staat. Die Gleichheit und Einheit des Volkes verdrängte die Spaltung der Stände und trug so zur Festigung der Demokratie bei.

Geteilter Stolz

In ihrer Emanzipationsgeschichte hat jede europäische Nation ihren Teil zu der europäischen Lebensweise beigetragen. In unserem Stolz auf diese nationalen Momente sind wir zugleich stolz auf ihr europäisches Gewicht. Die Französische Revolution ist so kein rein nationaler Mythos; durch ihren Einfluss auf andere europäische revolutionäre Momente – von 1848 bis 1989 – erlangt sie ihre welthistorische Bedeutung.

Dasselbe gilt für den Streik in der Danziger Schiffswerft 1980 oder Widerstandsbewegungen gegen die nationalsozialistische Okkupation quer durch den Kontinent. Auch der ukrainische Abwehrkampf wird einmal seinen Weg in das europäische kollektive Gedächtnis finden. Historische Momente vor der Aufklärung fungieren ebenso als europäische Wegbereiter. Man denke an die Schlacht von Tours im Jahr 732 oder die Wiener Türkenbelagerungen.

Ähnliches gilt für die Vielfalt nationaler und regionaler Traditionen, die gemeinsam Europas vorchristliche Mythologie, das römische Erbe und die christliche Prägung verkörpern. Im Alpenraum gibt es das Krampus-Fest, in Polen die Turon-Figur – in Griechenland gibt es den Kallikantzaros und in Finnland Nuuttipukki. Jeder Brauch wird an einem anderen Datum gefeiert, doch finden sie alle immer im Winter statt, stellen eine furchteinflössende Gestalt vor und verhandeln Artigkeit und Vergehen. Nation und Europa sind auch hier kein Widerspruch, sie bestehen nebeneinander, beeinflussen sich und bauen aufeinander auf.

Rettung der teuer erkämpften Normalität

Die politischen Herausforderungen unserer Zeit sind eine Chance für die europäische Idee, neue Kraft zu entwickeln – durch ein klares Bekenntnis zur Bewahrung dieser gemeinsamen Errungenschaften und der kulturellen Eigenheiten. Verlustangst ist mittlerweile die vorherrschende politische Kraft auf dem Kontinent, und sie bezieht sich in ihren nationalen Ausprägungen auf Aspekte derselben Grundordnung. Es geht unter anderem um öffentliche Sicherheit, gemeinsame kulturelle Normen, Meinungsfreiheit und die Standhaftigkeit der europäischen Demokratien. Mehr als die oft angeprangerte fehlende Toleranz zählt das Gefühl, dass die altbekannte, hart erarbeitete und teuer erkämpfte Normalität in Europa auseinanderbreche.

In ihrem Versuch, jedem Nationalismus abzuschwören, positionieren sich viele Unterstützer der Europäischen Union als Teil des Problems. Es führt am Ziel vorbei, wenn man den Europäern ihr Anrecht auf Nationenliebe aberkennt und diese mit einer neuen europäischen Einheit ersetzen möchte – oder noch schlimmer: in eine Art postmodern-liberalen Hyperindividualismus verfällt, in dem nur noch die Selbstverwirklichung des Einzelnen zählt.

Wenn Phrasen wie «Schutz der europäischen Lebensweise» öffentlichen Protest auslösen oder ständig aus Brüssel gegen den Nationalismus gewettert wird, schafft man eine künstliche Trennung zwischen der europäischen Idee und der Identität vieler Europäer.

Stattdessen muss das vereinte Europa als Mittel gedacht werden, seine Nationen zu fördern und zu schützen. Nur mit vereinter Kraft können wir unsere kulturellen Eigenheiten bewahren, die Sicherheit auf unseren Strassen und Volksfesten vor Terror und Kriminalität schützen und unser demokratisches Zusammenleben stärken.

Wo die Bedrohung gegen das europäische Leben greifbarer ist, ist nationale Identität bereits untrennbar mit Europa verstrickt. Man denke an die Ukraine, Georgien oder die Moldau, wo ein in Unterschiedlichkeit einiger Kontinent als sicherer Hafen für nationales Leben gesehen wird – ein Rahmen, der Europäer in ihren lokalen Traditionen bestärkt und diese vor zerstörerischen Einflüssen schützt.

Anders als man meinen könnte, herrschen zurzeit optimale Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der europäischen Idee – als Beschützer einer gemeinsamen Heimat; eines Europas, in dem freie Bürger ihre nationalen Traditionen und Identitäten in Frieden und Sicherheit ausleben können. So liesse sich die seit Jahrhunderten existierende Brücke zwischen Nation und Europa auf die Politik übertragen.

Das Nationalbewusstsein ist so keine Bedrohung für die europäische Einigung mehr, es wird ihre Stütze. Ausserdem wäre antieuropäischen, sogenannten «nationalistischen» Kräften ihre Argumentationsgrundlage genommen und ihr Widerstand gegen europäische Zusammenarbeit als nicht nur antieuropäisch, sondern auch als antinational entlarvt. Das gemeinsame Streben, diese Heimat zu bewahren, könnte dann die emotionale Kraft spenden, deren die europäische Einigung so dringend bedarf.

Sie ist und bleibt für viele ein Kompromiss. Den einen wird es schwerfallen, in ihrer universalistischen Weltanschauung Nationalstolz als Teil Europas zu akzeptieren. Andere werden nur unter grossen Schmerzen ihre nationale Identität von der Souveränität nationaler politischer Institutionen trennen können. Jedoch ist der Preis der Untätigkeit höher.

Das Fortbestehen unserer universalistischen Werte genauso wie die Bewahrung unserer Traditionen verlangen im Zeitalter globaler Konfrontationen eine wehrhafte gemeinsame Heimat. Anders als in vergangenen Jahrhunderten wartet die Welt nicht mehr auf Europa. Die Entscheidung liegt indes noch bei uns.

Arthur Krön ist österreichischer Historiker an der University of Oxford.