Schläge, Schnitte, Würgemale. Mehr als 20 Jahre lang wurde Ayten von ihrem Mann drangsaliert. Heute machen sie und Sohn Battal aus der Region Stuttgart Betroffenen Mut.
Es ist eine Liebesgeschichte, die in Gewalt endete. Ayten war mehr als 20 Jahre Opfer häuslicher Gewalt. Der Täter: ihr eigener Partner. Kennengelernt hatten sie sich 1994, zusammengekommen waren sie 1998. Der Anfang ihrer Beziehung ist von Liebe erfüllt, findet Ayten. Nach anderthalb Jahren fängt der Terror an. Der Täter tut ihr alle Formen von Gewalt an: Schläge, Schnitte, Drohungen, Isolation. Als hätte er sie studiert.
Jede vierte Frau zwischen 16 bis 85 Jahren wurde laut dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bereits einmal von einem Lebensgefährten oder Ex-Partner misshandelt, hat körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt erfahren. Auch in Baden-Württemberg steigen die Zahlen von häuslicher Gewalt. Im Sicherheitsberichts 2024 des Innenministeriums wurden 18.538 betroffene Frauen erfasst. Schätzungen zufolge liegt die Dunkelziffer weitaus höher. 20 bis 30 Frauen werden in Baden-Württemberg pro Jahr getötet.
Zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November fordert der Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg deshalb mehr Schutz von und Unterstützung für Betroffene, beispielsweise durch den Ausbau von Schutzplätzen und Beratungsstellen.
„Alles gehörte ihm, inklusive wir“
Ayten ist eine dieser Betroffenen in Baden-Württemberg. Sie schuftete in den Läden ihres Ex-Partners, im Haushalt und versorgte die gemeinsamen drei Kinder. „Mama war die Sklavin. Es gab eine Zeit, da wurde ich drei Monate lang von ihr weggenommen, damit sie arbeiten kann. In der Zeit haben wir uns nicht gesehen“, erzählt der heute 25-jährige Sohn Battal. Von klein auf bekommt er als ältestes Kind die Gewalt gegen seine Mutter mit – und bleibt selbst nicht verschont.
Jeden Tag gab es Streit oder Schläge, sagt er. Battal musste vor der Tür warten, bis die Exzesse des Vaters vorbei waren. Als er älter wurde, musste er mit ins Zimmer. Andere Väter nehmen ihre Kinder mit zum Fußball. Der Sohn sollte vom Vater lernen, wie man eine Frau schlägt, um ein richtiger Mann zu werden.
Am 25. November wird jedes Jahr in ganz Deutschland gegen Gewalt gegen Frauen demonstriert. Foto: IMAGO/NurPhoto/IMAGO/Ying Tang
Ayten hatte mehrfach eine gebrochene Nase, Faustschläge und Messerschnitte zeichneten ihren Körper. Ihr Mann würgte sie. Wenn die Gewalt aus ihm herausbrach, verwandelte er sich, erinnert sich Ayten: „Das hat man an den Augen gesehen. Sie wurden schwarz. Wie in den Filmen, dämonisch.“ Battal unterbricht seine Mutter ab und zu. Als wollte er ihr die Schwere nehmen, die Geschichte allein zu erzählen. Er erinnert sich, dass der Vater drohte, jemand zu engagieren, der sie umbringt.
„Eines Nachts ist mir mein Vater mit einem Messer an den Hals gegangen. Und dann saß er dort die ganze Nacht neben mir.“ Seine Mutter habe sich dazwischen gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war sie schwanger mit einem Mädchen. „Als er das erfuhr, empfand er nur Hass“, sagt sie. Ab dem fünften Monat bis zur Geburt ließ ihr Mann sie ganze Nächte auf einem Stuhl sitzen. Schwanger, mit Schmerzen und wie paralysiert von der steifen Sitzhaltung.
Oft wurde Ayten von ihren Kindern isoliert. Sie sollten ihre Mutter „so“ nicht sehen, übersät mit Verletzungen. Sie erzählt und hält dabei ein kleines, grünes Säckchen mit Heilsteinen in der Hand. Das habe ihr Battal mal geschenkt.
Die Illusion zerbricht
Der Raum, in dem das Gespräch mit Ayten und Battal stattfindet, ist sehr ruhig. Es regnet an diesem trüben Montagmorgen. Draußen ist es nass, die Straßen sind voll mit Pfützen. Wie das Licht im Regenwasser spiegeln sich in Aytens Geschichte Scham und Schuld. Besonders in dem Moment, als ihr bewusst wurde, dass sie sich wehren muss.
Der Wendepunkt kam, als Battal sieben oder acht Jahre alt war. Er sagte zu seiner Mutter: „Mama, du bist schuld. Weil du ihn nicht anlächelst. Weil du immer so ernst bist.“ Damals, so sagt es Ayten, sei ihre Illusion zerbrochen, dass sie vor ihren Kindern eine Fassade aufrechterhalten kann. Sie begann mit Battal zu reden, zu erklären, wie sie die Gewalt erlebt. Fortan schmiedete sie Pläne, wie Mutter und Kinder entkommen könnten.
Ihre Träume sind nicht groß, es soll nur die Freiheit sein
Aber erst, als Battal 18 Jahre alt ist, unternimmt Ayten mit den drei Kindern einen ersten Fluchtversuch. Nachdem der Vater Battal nachts auf den Balkon gezerrt und stundenlang in der Kälte festgehalten hatte, packt Ayten am nächsten Morgen ihre Kinder und fährt zur Polizei. Auf dem Weg halten sie, gehen zum ersten Mal gemeinsam in ein Restaurant. Sie habe ihren Kindern dadurch die Angst nehmen wollen, erzählt Ayten. Der erste Geschmack von Freiheit: Schnitzel und Pommes.
Doch die erhoffte Hilfe der Polizei bleibt aus. Ein Wohnungsverweis gelte nur drei Tage, erklärt man ihr, und an einem Sonntag könne die Polizei sie nicht in ein Frauenhaus bringen – die Häuser hätten sonntags geschlossen. Eine Falschinformation, wie sich später heraus stellt. Ohne Hilfe fährt Ayten mit ihren Kindern wieder nach Hause.
Eine Situation, die Katrin Lehmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg kennt. Der Schutz vor Gewalt liege noch immer zu stark in der Verantwortung der Betroffenen, sagt sie. Der Wohnungsverweis werde von der Polizei nicht richtig kontrolliert, bei Verstößen müssten die Frauen selbst anrufen, und auch erneute Strafanzeigen lägen in ihren Händen.
Der Verband fordert deshalb die Umsetzung des Gewalthilfegesetzes, den Ausbau von Frauen- und Kinderschutzhäusern und mehr spezialisierte Fachberatungsstellen. Das Gesetz soll erstmals einen bundesweiten Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung schaffen und Bund sowie Länder verpflichten, genügend Frauenhausplätze und Fachberatungsstellen zu finanzieren.
Ayten schafft es erst im April 2021, erneut zu fliehen. Damals eskaliert die Situation einmal mehr: In der Küche versucht ihr Mann, Ayten zu schlagen und zu würgen, greift nach einem Messer. Die Kinder stürmen herein. In diesem Moment wehrt Ayten sich zum ersten Mal und drängt ihren Mann hinaus. In der Zwischenzeit ruft Battal die Polizei. Als die Beamten eintreffen, bricht der Täter zusammen. „Wie ein Schuljunge“, sagt der Sohn.
Anderen Mut machen
Nach dem Umzug in die Nähe von Stuttgart beginnt für Mutter und Kinder ein neues Leben. Zum ersten Mal erfahren sie Unterstützung von außen: Beim Verein „Frauen helfen Frauen“ wird ihnen zugehört, man glaubt ihnen, begleitet sie. „Ich habe stundenlang meine Geschichte erzählt“, sagt Ayten. Sie zeigt ihren Ex-Partner an.
Vor sieben Männern im Gericht muss Ayten unter anderem über die sexualisierte Gewalt sprechen, die sie erlebt hat. Für drei Delikte aus zwanzig Jahren Beziehung wird ihr ehemaliger Partner im Januar 2025 zu vier Jahren auf Bewährung verurteilt. „In diesem Moment wurde uns klar, dass wir selbst für Gerechtigkeit sorgen müssen“, sagen Mutter und Sohn.
Das tun sie heute mit ihrem Verein Kolibri. Mit Kunstaktionen und Veranstaltungen setzen Ayten und Battal ein Zeichen gegen häusliche Gewalt, geben Betroffenen Mut und eine Stimme. Für ihr Engagement wurden sie bereits von Königin Silvia von Schweden ausgezeichnet. „Ich möchte, dass jede Frau weiß, dass sie nicht allein ist. Sie muss sich nicht schämen“, sagt Ayten. Und Battal ergänzt: „Ich verspreche jedem Kind, dass ich alles dafür gebe, dass es nicht erleben muss, was ich erlebt habe.“
Hilfe für Frauen
Hilfetelefon
Betroffene Frauen finden Hilfe. Unter anderem am Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, Telefon 116 016 (täglich 12-20 Uhr). Außerdem ist der Verein „Frauen helfen Frauen“ in Stuttgart eine Anlaufstelle, unter anderem mit seiner Beratungsstelle (Telefon 0711/649 45 50). Weitere Informationen auf der Homepage des Vereins.
Demonstration in Stuttgart
Der 25. November ist der Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. In Stuttgart beginnt um 17.30 Uhr eine Kundgebung mit Demonstration am Wilhelmsplatz in Stuttgart-Mitte.