Frankreichs Gastroikone –
Auch das noch: Das Baguette steckt in der Krise
Die Franzosen essen weniger Brot: von 700 Gramm pro Tag und Kopf zu 99 Gramm heute. Auch das französische Paradebrot leidet. Nun aber läuft eine Revolution.
Publiziert heute um 06:05 Uhr
Das Klischee selbst inszeniert: Französische Fussballfans vor einem Spiel ihrer Nationalmannschaft in Düsseldorf an der EM 2024.
Foto: Kenzo Tribouillard (AFP)
In Kürze:
- Das «Baguette de Paris» gilt trotz sinkender Beliebtheit als demokratisches Kulturgut mit Unesco-Schutz.
- Politiker müssen den aktuellen Baguette-Preis kennen, um ihre Volksnähe zu beweisen.
- Innovative «Néo-boulangeries» beleben mit Sauerteigvarianten die traditionelle französische Backkunst.
Bei den Franzosen ist es wie bei allen Völkern: Sie lassen sich nicht so gern auf Stereotypen reduzieren. Im Kopf der Welt geht jede Französin, jeder Franzose mit einem Baguette unter dem Arm oder in der Einkaufstasche durchs Leben. Überzeichnet, aber nicht falsch. Oft überlebt die Kuppe des Langbrots den Weg nach Hause nicht, weil die Versuchung einfach zu gross ist. Diese Wonne, wenn die Kruste zwischen den Zähnen kracht, warm noch.
Manchmal verhält es sich bei den Gemeinplätzen auch genau umgekehrt: Die hübschen sollen bitte ewig leben. Und das «Baguette de Paris», wie man es in Frankreich nennt, weil es ursprünglich wohl aus dem Paris des 18. Jahrhunderts kommt, ist nun mal ein besonders schöner. Ein sympathisches Symbol, eine Ikone. Seit ein paar Jahren wird es von der Unesco geschützt, als immaterielles Kulturgut.
Von fast drei Baguettes am Tag zu weniger als einem halben
Nun berichtet aber CNN, der grosse Nachrichtensender aus den USA, dass das liebste Brot der Franzosen bedroht sei. «Die Zukunft des Baguettes ist ungewiss», hiess es in dem Beitrag. Eine Alarmglocke von drüben, schrill trotz der Ferne. Und hier gleich noch ein weiteres wahres Klischee: Die Franzosen lassen sich sehr ungern belehren. Gerade von den Amerikanern. Und gerade im Gastronomischen, also im Philosophischen.
Der Befund aber ist richtig, wenigstens ein bisschen. Studien haben ergeben, dass der Brotkonsum der Franzosen insgesamt stark zurückgeht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ass man in Frankreich 700 Gramm Brot pro Kopf und pro Tag. Vor zehn Jahren waren es dann 113 Gramm, nun sind es noch 99 Gramm. In Baguettes gerechnet, in der Regel 250 Gramm schwer: von fast drei zu weniger als einem halben.
Die totale Égalité hinter dem Baguette
Dass man in Baguettes rechnet, hat übrigens auch seine statistische Bewandtnis: In Frankreich gehört das lange Brot in den Korb der Grundnahrungsmittel, zum Existenzinventar. Früher hiess es einmal, ein Baguette müsse für alle erschwinglich sein, auch für die Ärmsten. Nach der Französischen Revolution gab es ein Dekret, das vorschrieb, dass alle Bürger dasselbe Brot essen sollten: die totale Égalité eben. «La baguette» gilt noch immer als Inbegriff des demokratischen Nahrungsmittels. Wenn französische Politiker von den Medien auf ihre Bodenhaftigkeit gegrillt werden, fragt man sie meistens nach dem Preis eines Baguettes.
Klar, der variiert. In der Provinz ist er tiefer als in Paris, im Supermarkt viel tiefer als beim Bäcker. Aber wenn ein Politiker glaubhaft den Preis des Baguettes in einer Bäckerei in seinem Wahlkreis aufsagen kann, hat er schon viel gewonnen.

Xavier Netry von der Bäckerei Utopie im 11. Arrondissement gewann den Preis des besten Baguettes von Paris 2024. Der Sieger darf jeweils ein Jahr lang den Palais de l’Élysée, Sitz des französischen Staatspräsidenten, mit Brot beliefern.
Foto: AFP
Der Rückgang des Brotverzehrs liegt zunächst am allgemeinen Wandel der Essgewohnheiten, wie man ihn auch in anderen Ländern beobachtet. Gerade das klassische, hellgoldene Baguette aus weissem Mehl und gewöhnlicher Hefe, das billigste, hat in kalorienbedachten Zeiten nun mal einen eher mittelmässig guten Ruf.
Ausserdem wird das herkömmliche Baguette, vor allem die Industrieware aus dem Supermarkt, schnell trocken und hart. Die Reste vom Vortag landen deshalb öfter im Abfall als die von dunkleren Versionen ohne chemische Zusätze und ohne aufgetaute Zutaten: das normgeschützte «Baguette tradition» etwa, das «Baguette de campagne», das «Baguette aux céréales».
In Paris wird das Baguette neu erfunden
In den vielen innovativen Bäckereien des Landes wird mit Lust an neuem Brot geprobt, damit es wieder besser in die Zeit passt. Das meiste basiert auf lange fermentiertem Sauerteig. Der Trend ist natürlich vor allem in Paris gross, die Stadt will auch auf diesem Gebiet unbedingt Avantgarde sein. Sie werden «Néo-boulangeries» genannt, Neubäckereien, kleine Läden. Es gibt sie überall, die Kunden stehen Schlange. Billig sind sie allerdings nicht, der Geist der Revolution ist schon lange verweht.
Und das Baguette sieht auch nicht mehr immer aus wie ein gewöhnliches Baguette. Oft ist es kürzer als die üblichen 65 Zentimeter. Man isst davon vielleicht etwas weniger, dafür bewusster. Es ist auch länger haltbar, das Néo-Baguette. Geblieben ist das alte, schöne Bild in der Strasse. Und natürlich das Krachen zwischen den Zähnen.
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