Es ist ein wichtiger Meilenstein in einem Wahlkampf, der in Ungarn schon heftig tobt, obwohl der eigentliche Abstimmungstag Anfang April noch in weiter Ferne liegt: In dieser Woche will die oppositionelle Tisza-Partei die Auswahl ihrer Direktkandidaten abschließen – und jedem ist klar, dass dann mit noch härteren Bandagen gekämpft werden wird. Denn Tisza will mit vielen Politneulingen Ministerpräsident Viktor Orbán in die Opposition schicken, der in 15 Jahren Regierungszeit nicht nur die meisten Institutionen des Landes, sondern auch viele Medien unter seine Kontrolle gebracht hat.

Dass Tisza dennoch seit Monaten in den regierungsunabhängigen Umfragen vorne liegt, hat vor allem mit dem strategischen Geschick von Parteichef Péter Magyar zu tun. Der hatte entschieden, einen klaren Schnitt zur alten Opposition zu machen, da die Ungarn nicht nur über Korruption und Misswirtschaft im Land frustriert waren, sondern auch über die Unfähigkeit der Opposition, sich der Übermacht des Fidesz entgegenzustellen. Unter den 315 Bewerbern der Tisza für 105 Wahlbezirke (der 106. ist bereits für Magyar reserviert) finden sich daher Apotheker, Krankenschwestern, Lehrer und Ingenieure, fast alle ohne große politische Erfahrung. Selbst verdiente Oppositionsleute ließ Magyar nicht in seine Partei.

Orbán verspricht eine 14. Monatsrente

Gegen die üppig ausgestattete Wahlkampfmaschine des Fidesz birgt das sicherlich Risiken, doch Magyar konnte sich durch Orbáns erste Reaktion auf die Vorauswahl der Kandidaten bestätigt fühlen, als dieser ohne jeden Beleg behauptete, Tisza stelle „die gleichen linken Gruppen wie vor vier Jahren“ auf.

Orbáns Herausforderer Péter Magyar im März 2024 in BudapestOrbáns Herausforderer Péter Magyar im März 2024 in BudapestAP

Den Mangel an erfahrenen Politikern versucht Magyar dadurch auszugleichen, indem er sich regelmäßig mit international erfahrenen Managern trifft, denen eine Rolle in einer künftigen Regierung zufallen könnte, darunter der frühere Shell-Vizechef István Kapitány oder der Finanzfachmann András Kármán, der unter Orbán bis 2011 kurze Zeit Staatssekretär war, dann aber im Streit über die Finanzpolitik die Regierung verließ.

Gerade dieser Bereich könnte im nächsten Jahr immer wichtiger werden. Ungarn steckt in einer tiefen Wirtschafts- und Budgetkrise. Seit 2022 hat die EU zudem Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe eingefroren, um Ungarn zu Rechtsstaatsreformen und einem wirksamen Kampf gegen Korruption zu zwingen. Viele Beobachter sahen es als Zeichen der wachsenden Nervosität im Regierungslager, dass Orbán kürzlich trotz klammer Kassen eine 14. Monatsrente für das nächste Jahr versprach.

Nachdem sich Orbán lange kaum für die Innenpolitik interessiert habe, wirkt er plötzlich „fast hyperaktiv“, sagt András Bíró-Nagy, der die Budapester Denkfabrik Policy Solutions leitet. Er toure durch Studios und Podcasts und sei überall präsent. „Es wirkt fast so, als sei Orbán aus seiner Lethargie erwacht, seit er einen ernst zu nehmenden Herausforderer habe.“

Zuletzt konnte der Regierungschef mit seinem Besuch beim amerikanischen Präsidenten Donald Trump punkten, der auf allen Kanälen ausgespielt wurde, zumal Trump nicht nur eine Befreiung von den Russlandsanktionen versprach, sondern auch Rückendeckung, sollte Ungarn in finanzielle Schieflage geraten. „Sollte vor der Wahl tatsächlich noch ein Gipfel zwischen Trump und Putin in Budapest stattfinden, würde das Orbán mit Sicherheit helfen“, sagt Bíró-Nagy.

Orbán adressiert die Kriegs-, Magyar die Alltagssorgen

Orbán versucht derzeit ständig, den Fokus auf existenzielle Themen wie Krieg und Frieden zu lenken und die Angst davor zu schüren, dass Ungarn mit der EU in die Auseinandersetzung um die Ukraine hineingezogen werden könnte. „Magyar hat das genau verstanden und fokussiert seine Kampagne konsequent auf die Alltagsprobleme, unter denen die Ungarn nach 15 Jahren Fidesz-Herrschaft leiden“, sagt Bíró-Nagy: Hohe Lebenshaltungskosten, die kaputte Infrastruktur, eine miserable Gesundheitsversorgung und nicht zuletzt die überall sichtbare Korruption.

Doch bei aller Euphorie für die guten Umfragen hält sich der Optimismus bei vielen Kritikern Orbáns in Grenzen. Das liegt zum einen am ungarischen Wahlsystem, das sich der Fidesz in den 15 Jahren seiner Herrschaft mit Zweidrittelmehrheit auf den Leib geschneidert hat und das vor allem die ländlichen Gegenden bevorzugt, in denen der Fidesz weiterhin stark ist. Magyar hat auch das erkannt und tourt seit Monaten ohne Unterlass durch die ungarische Provinz, doch Beobachter gehen davon aus, dass Tisza mit mindestens fünf Prozentpunkten Abstand gewinnen müsste, um tatsächlich auch die Mehrheit der Sitze im Parlament zu bekommen.

Zu welchen Mitteln der Fidesz, der den gesamten Staatsapparat kontrolliert, noch greifen wird, wagt niemand vorherzusagen. Anfang November waren die Daten sämtlicher Nutzer der Tisza-App im Internet aufgetaucht. Die Regierung warf Magyar daraufhin Inkompetenz und Fahrlässigkeit vor, da er bei der Entwicklung mit einer ukrainischen IT-Firma zusammengearbeitet habe, doch in der Opposition ist man sicher, dass regierungsnahe Kräfte hinter der Aktion stehen, viele glauben sogar: mit russischer Hilfe.

Ein weiteres Risiko liegt in der Persönlichkeit des Tisza-Chefs selbst. Magyar soll zuletzt dünnhäutig auf kritische Fragen reagiert haben, berichten auch Journalisten unabhängiger Medien. Dass Magyar ein leicht reizbares Temperament besitzt, sehen manche Beobachter schon lange. Magyar stammt selbst aus der Regierungspartei und saß lange auf gut dotierten Posten, bis er die Partei Anfang 2024 nach einem Skandal über den Umgang mit Missbrauchstätern verließ. Er war mit der früheren Justizministerin Judit Varga verheiratet, die Orbán im Zuge jenes Skandals fallen gelassen hatte. Doch kurz darauf warf sie Magyar vor, in der Ehe gewalttätig geworden zu sein. Auch eine spätere Ex-Freundin Magyars versuchte, ihn mit geheimen Tonmitschnitten zu erpressen, die bislang nur in Teilen öffentlich sind.

Doch Beobachter wie Bíró-Nagy glauben, dass dem Tisza-Chef auch neue Skandale kaum etwas anhaben würden. „Der Fidesz hat Péter Magyar schon mit sehr viel Dreck beworfen“, sagt der Politikwissenschaftler. „Nichts ist wirklich an ihm haften geblieben.“ Immer wieder ist in Ungarn in diesen Tagen zu hören, Magyar habe sich als „kugelsicher“ erwiesen, er werde von einem „Schild der Hoffnung“ getragen. Die Menschen würden so verzweifelt auf Wandel hoffen, dass ihnen für dieses Ziel alles andere nachrangig sei.