
Stand: 25.11.2025 15:58 Uhr
Vor vier Jahren überlebte Denise Carstens einen brutalen Angriff ihres Ex-Partners. Seitdem kämpft sie nicht nur mit den Folgen der Tat, sondern auch mit Behörden, die ihr die dringend nötige Unterstützung verwehren.
Denise Carstens wollte an diesem Nachmittag nur zu ihrem Auto gehen, als ihr Ex-Partner sie abfing. Er lauerte ihr in einer dunklen Ecke auf – schwer alkoholisiert, voller Wut. Dann eskalierte die Situation: „Er trat, würgte und schlug mich“, erzählt sie – bis heute ist sie noch sichtlich mitgenommen. Und dann habe er gesagt: „Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich dich jetzt erschießen.“ Ein Satz, der sie bis heute verfolgt. Seitdem ist für die heute 40-Jährige nichts mehr, wie es war. Sie schläft kaum, erlebt Flashbacks und ist seitdem sechs Mal umgezogen. Der Täter, ein Albaner ohne deutschen Wohnsitz, ist bis heute flüchtig.
Kampf um Anerkennung

Das Gassigehen mit ihrem Hund bringt Denise Carstens auf andere Gedanken.
Obwohl sie ein anerkanntes Opfer eines Gewaltverbrechens ist, kämpft Denise Carstens seit 2021 darum, finanzielle Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erhalten. Es geht um medizinische Behandlungen, um eine berufliche Zukunft – und vor allem um Stabilität. Zwei Gutachten stehen gegeneinander: Ein erster Gutachter sieht nur 20 Prozent Schädigungsfolge, ein zweiter 50. Leistungen gibt es ab 30 Prozent. Ein jahrelanger Streit beginnt. Für Gutachten, Anwälte und Therapieversuche musste sie bereits Tausende Euro selbst zahlen. Ihr Leben stagniert – im Warteschleifenmodus.
Ein System, das Opfer überfordert
Viele Betroffene erleben ähnliche Hürden. Lena Weilbacher von der Opferhilfeorganisation „Weißer Ring“ erklärt, wie schwierig der Weg durch die Behörden sein kann. „Bis zur ersten Entscheidung vergehen oftmals zwölf bis 18 Monate“, sagt Weilbacher. „Manche Verfahren ziehen sich aber auch über fünf Jahre.“ Ständig müssten neue Unterlagen eingereicht werden, erneut Untersuchungen gemacht werden. „Für Menschen, die mit einer traumatischen Vergangenheit leben, ist das kaum auszuhalten“, weiß sie aus Erfahrung. „Viele geben auf und ziehen ihren Antrag zurück.“ Dazu kommt: Jeder zweite Antrag auf Opferentschädigung wird laut „Weißem Ring“ abgelehnt.
Ein Angriff, der ein Leben zerstörte

Seit der Gewalttat im Juli 2021 ist für Denise Carstens nichts mehr so, wie es war.
Carstens erhält derzeit eine Erwerbsminderungsrente von rund 1.500 Euro von der gesetzlichen Rentenversicherung. Doch die dringend benötigte Traumatherapie kann sie nicht beginnen. „Solange jeden Monat Post kommt, neue Fragen, neue Termine, finde ich keinen klaren Kopf“, sagt die gelernte medizinische Fachangestellte aus Wolfsburg. Nachts wache sie schweißgebadet auf, tagsüber fühle sie sich erschöpft. Jede unerwartete Begegnung im Supermarkt kann Erinnerungen auslösen. Sie möchte zurück in ihren Beruf, möchte wieder am Leben teilnehmen – doch die Ungewissheit blockiert sie. „Ich will kein Opfer bleiben“, sagt sie. „Aber ohne Unterstützung komme ich da nicht raus.“
Sozialministerium will Verfahren beschleunigen
Das zuständige Landesamt für Soziales, Jugend und Familie in Braunschweig möchte sich auf NDR Anfrage nicht zum konkreten Einzelfall äußern. Und auch das Niedersächsische Sozialministerium hält sich bedeckt. Es räumt aber ein: „Das Verfahren nimmt bekannterweise viel Zeit in Anspruch, insbesondere dadurch, dass Zeugen befragt werden, die sich nicht zurückmelden, oder medizinische Unterlagen häufig erst nach mehrfacher Erinnerung eingereicht werden.“ Was das für die Opfer bedeutet, scheint man aber offenbar auch im Ministerium erkannt zu haben und will künftig „Geschäftsprozesse optimieren“. Und es schreibt weiter: „Aktuell wird auf Bundes- und Länderebene diskutiert, mehrfache Angaben bei unterschiedlichen Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, ärztlicher Dienst, externe Gutachten, Versorgungsbehörden) zu vermeiden.“ Hier seien jedoch noch einige rechtliche Hürden zu überwinden.“
Rat und Nothilfe bei psychischen Krisen und häuslicher Gewalt
- Telefonseelsorge: anonyme, kostenlose Beratung rund um die Uhr; Tel. (0800) 11 10 111 oder (0800) 11 10 222
- Gewalt gegen Frauen – bundesweites Hilfetelefon rund um die Uhr; Tel. 116 016
- Gewalt gegen Männer – bundesweites Hilfetelefon rund um die Uhr; Tel. (0800) 12 39 900
- Täterarbeit Häusliche Gewalt Niedersachsen – die Einrichtung bietet eine Übersicht zu regionalen Anlaufstellen für Täter und Opfer
Ein strukturelles Problem
Aktuelle Zahlen des Bundeskriminalamts zu Gewalt gegen Frauen zeigen, wie dramatisch die Lage ist: 2024 wurden 187.128 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. Das sind rund 6.400 (3,5 Prozent) mehr als im Vorjahr. Rund 136.000 Frauen und Mädchen haben dabei Partnerschaftsgewalt erlebt. Hierbei waren 56.478 Verdächtige (37 Prozent) dem Bericht zufolge Nichtdeutsche. Bei einem Bevölkerungsanteil von 14,5 Prozent sind nichtdeutsche Tatverdächtige demnach überrepräsentiert. Versuchte Femizide, sexualisierte Gewalt – in nahezu allen Bereichen steigen die Zahlen weiter. Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist. Während die Gewalt zunimmt, berichten Betroffene wie Denise Carstens gleichzeitig von Hürden, langen Wartezeiten und fehlender staatlicher Unterstützung. Ein Missverhältnis, das vielen das Leben zusätzlich erschwert.
„Die Opfer werden zweimal zu Opfern“
Ihr Vater erlebt den Kampf seiner Tochter hautnah mit. „Es ist beschämend“, sagt er. „Die Opfer werden zweimal zu Opfern – einmal durch die Tat und dann durch die Behörden.“ Die Akte seiner Tochter umfasst inzwischen mehr als 400 Seiten. Freunde und Familie helfen, wo sie können. Was fehlt, ist die offizielle Anerkennung, die Türen öffnen würde: Zu therapeutischer Hilfe, beruflicher Rehabilitation, zu einem Leben jenseits des Schocks. Doch auf einen einzigen Anruf, der fragt, wie es ihr geht oder was sie braucht, wartet Denise Carstens bis heute.
Orange Day 2025

Die Postkarte zeigt eine Handbewegung, mit welcher Frauen auf sich aufmerksam machen können, wenn sie in Gefahr sind.

Niedersachsen setzt an vielen Orten ein Zeichen gegen Gewalt an Frauen – so auch in Hannover und Göttingen.

308 Frauen wurden 2024 in Deutschland getötet – meist von (Ex-)Partnern. Zum heutigen „Orange Day“ wird an Femizide erinnert, es gibt zahlreiche Aktionen im Norden.

Forschende – auch aus Niedersachsen – fanden heraus, dass die Männer meist aus Besitzdenken oder Eifersucht heraus töten.

Fast täglich töten Männer Frauen. Susanne Beck erklärt, warum das ein gesellschaftliches Problem ist.