„Wir brauchen einen Aufstand der Demokraten, aller Demokraten – jetzt!“ Diese Forderung von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey markiert den emotionalen Höhepunkt eines Abends, der noch einiges mehr an politischer Brisanz zu bieten hat. Das Soziologen- und Autorenduo hat den Aufruf fast ans Ende seiner Dankesrede für den Geschwister-Scholl-Preis gestellt. Sie wird mit langem Applaus vom Publikum bedacht. Und hat viele ernste Gesichter zur Folge.

Die Verleihungen dieses Preises stehen immer für gesellschaftliche Relevanz. Schließlich erinnert die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung, die vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zusammen mit der Landeshauptstadt München verliehen wird, an das Vermächtnis von Hans und Sophie Scholl, die 1943 wegen ihres Widerstands gegen das NS-Regime hingerichtet wurden. Die Bücher, die seit 1980 in ihrem Sinne ausgezeichnet werden, sollen „von geistiger Un­abhängigkeit“ zeugen, bürgerliche Freiheit und Mut fördern und dem Gegenwartsbewusstsein „wichtige Impulse“ geben.

Rede zum Geschwister-Scholl-Preis

:Auch heute dürfen wir nicht warten

Die Demokratie befindet sich in einer ihrer tiefsten Krisen: Der Glaube an ihre Effektivität schwindet, ihre Feinde sind im Aufwind. Doch eine Umkehr ist möglich – das ist das Vermächtnis der Geschwister Scholl.

SZ PlusGastbeitrag von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

Das ist bei Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys Buch „Zerstörungslust“ zweifellos der Fall. Es enthält den Bezug zum Nationalsozialismus schon im Untertitel, analysiert es doch „Elemente eines demokratischen Faschismus“. Den Begriff haben die Soziologen selbst entwickelt, und er benennt – um hier gleich die Jurybegründung ins Spiel zu bringen – „eine Haltung, die mitten in der Demokratie entsteht: eine Mischung aus Ressentiment, regressiver Rebellion und faschistischen Fantasien“. Die Gründe für diese destruktiven Energien, die sich gegen Staat und Institutionen richten, lägen in wachsender Ungleichheit, im Verlust von Status und Zugehörigkeit – und zwar „von der verunsicherten Mitte bis in radikalisierte Milieus“.

Der Abend, ein einziger Appell zum Handeln

Die bürgerliche Mitte jedenfalls sitzt an diesem Dienstagabend in der vollbesetzten Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität – in einem Versuch der Rückversicherung, so kann man es deuten, angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Verunsicherungen.  Und tatsächlich gibt es viel Bedrückendes an diesem Abend zu hören, der sich als ein einziger Appell zum Handeln interpretieren lässt.

Beunruhigt zeigt sich bereits Matthias Tschöp, der neue Präsident der LMU München, in seiner Begrüßung. Er beschreibt, wie sehr auch Institutionen wie die Universitäten unter „erschreckenden Angriffen auf ihre Autonomie“ und zunehmender Wissenschaftsskepsis leiden, nicht nur in den USA. Solchen Angriffen begegne man an der LMU mit Forschung und Lehre: „Wissenschaft schafft Fakten.“ Und auch ein Buch wie das von Amlinger und Nachtwey gebe „Anstöße, die Freiheit zu verteidigen“.

Matthias Tschöp, der neue Präsident der LMU, findet im Buch von Amlinger und Nachtwey „Anstöße, die Freiheit zu verteidigen“ .Matthias Tschöp, der neue Präsident der LMU, findet im Buch von Amlinger und Nachtwey „Anstöße, die Freiheit zu verteidigen“ . (Foto: Robert Haas)

Oberbürgermeister Dieter Reiter findet ebenfalls klare Worte: „Die größte Gefahr für unsere Demokratie“, so sagt er, „ist der Rechtsextremismus“. Im Superwahljahr 2026, in dem in gleich fünf Bundesländern neue Landtage gewählt werden, sei überall „der rechte Rand im Aufwind“. Das Buch von Amlinger und Nachtwey zeige, auch wenn man nicht mit allen Punkten übereinstimmen müsse, „was auf dem Spiel steht“. Es erinnere im besten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl – „und daran, dass Zivilcourage immer eine Entscheidung ist“.

Und nach wie vor ist es in Deutschland ja gefahrlos möglich, seine Meinung kundzutun. Klaus Füreder als Vorsitzender des Börsenvereins-Landesverbands weist darauf hin, dass man beispielsweise immer wieder dem Narrativ von „Querdenkern und sehr Rechten“ entgegentreten müsse, sie seien eigentlich diejenigen, die das Erbe der Geschwister Scholl weitertrügen. Solchen Versuchen der Umdeutung von Geschichte könne die Buchbranche „verbrieftes Wissen und Information“ entgegensetzen.  Jetzt brauche es hierzulande nur noch Vorbilder wie den neuen New Yorker Bürgermeister Zohran Mamdani, um den antifaschistischen Kampf im Geiste der Geschwister Scholl zu beleben.

Dass Demokratie „kein Selbstläufer ist, sondern im ständigen Ringen um Konsens und Kompromiss ausgehandelt werden muss“, daran erinnert Laudator Thomas Krüger in einer mit viel Applaus bedachten Rede. Auf die Entwicklungen seit der friedlichen Revolution 1989 zurückblickend, konstatiert er: „Wir haben zu wenig berücksichtigt, dass Demokratie nicht im luftleeren Raum praktiziert wird“ – und ein „außer Rand und Band geratener Neoliberalismus“ den Aufbruchsgeist bei vielen Menschen in tiefe Ernüchterung und Enttäuschung verwandelt habe.

„Gegen Praktiken der Zerstörung der Demokratie gilt es aufzustehen“, sagt Laudator Thomas Krüger in aller Deutlichkeit.„Gegen Praktiken der Zerstörung der Demokratie gilt es aufzustehen“, sagt Laudator Thomas Krüger in aller Deutlichkeit. (Foto: Robert Haas)

Bis vor Kurzem hatte Krüger selbst als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung viel Einfluss, und er gesteht, dass die Lektüre des Buches von Amlinger und Nachtwey ihn „aufwühlt, nachdenklich stimmt und demütig macht“. Er lobt deren „klaren Kompass, der auf eine inklusive Gesellschaft zielt“, die von den Grundsätzen der Menschenwürde und den Menschenrechten getragen sei. Und er lässt keinen Zweifel: „Gegen Praktiken der Zerstörung der Demokratie gilt es aufzustehen.“

Diese Botschaft senden auch die Preisträger. „Wir dürfen nicht warten, bis ein anderer anfängt – ansonsten wird es zu spät sein“, so beginnt die von Amlinger und Nachtwey abwechselnd vorgetragene Dankesrede, die am Beispiel der Handlungen der Geschwister Scholl und des Schriftstellers Thomas Mann herausarbeitet: „Eine Umkehr ist möglich.“ Dass sie auch dringend nötig ist, verhehlen die Soziologen nicht. Die zu erwartenden Erfolge der AfD bei den anstehenden Landtagswahlen zeigen ihnen: „Das Unheil kann wiederkehren. In einer Politik der Grausamkeit, der Zerstörung der Humanität.“ Und sie erhalten Zwischenapplaus für ihren Fingerzeig in Richtung Politik: „Wer heute glaubt, die Rechtsextremen zu schwächen, indem er ihre Politik normalisiert, gar mit ihnen kooperiert, der hat aus der Geschichte nichts gelernt.“

„Für den Moment müssen wir die AfD stoppen, uns der Politik der Grausamkeit widersetzen“, fordern die beiden, und zwar „nicht nur bei den Wahlen, sondern auch am Arbeitsplatz, auf der Straße, in der Familie, im Freundeskreis“. Das geht alle an und wirft Fragen auf, die reichlich Gesprächsstoff für den anschließenden Empfang im Lichthof bieten. Die einen fragen sich mit einer gewissen Verzweiflung, was genau sie tun sollen. Die anderen tun schon. Der Schriftsteller Thomas Lang etwa erzählt, dass er kürzlich anlässlich einer Buchmesse rechter Verlage nach Halle gefahren ist. Er und ein Kollege verteilten in der Stadt Zettel mit Zitaten von Heinrich Heine bis Grete Weil, sie führten Gespräche mit Passanten. „Man kann etwas tun“, sagt Lang, „es muss gar nicht groß sein.“

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey würde diese Aktion sicher gefallen. Sie nährt die Hoffnung, dass beide auch mit einem weiteren Satz richtig liegen, den sie zuvor eindringlich formulierten. Die Zeit dränge, sagten sie, und: „Es ist spät, aber noch nicht zu spät.“