Eine Secondhand-Boutique an der anderen: Die Tübinger Straße ist längst eine Vintage-Modemeile. Belebt Konkurrenz das Geschäft? Ein Besuch.

Das Marais in Paris. Camden Town in London. Und die Tübinger Straße in Stuttgart? Vielleicht ist es etwas vermessen, die Gegend zwischen Marienplatz und Paulinenbrücke mit Europas Epizentren der Vintagemode zu vergleichen, aber wer in Stuttgart Secondhand shoppen will, ist in der Tübinger Straße an der richtigen Adresse. Vier Vintage– und Secondhand-Boutiquen gibt es hier, alle in Sichtweite voneinander, nimmt man um die Ecke noch Stoffwechsel in der Hauptstätter Straße dazu, sind es sogar fünf. Ist das zu geballt? Oder belebt Konkurrenz das Geschäft?

„Ich sehe uns gar nicht in einer Konkurrenz“, sagt Sybille Kurz, die in der Tübinger Straße 97 die Secondhand-Boutique Die Schöpfung führt. „Wir sind alle anders ausgerichtet – manche setzen bewusst auf Retro-Teile, ich mag gern hochwertige Kleidungsstücke. Wir ergänzen uns.“

Sybille Kurz in ihrer Secondhand-Boutique Die Schöpfung. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski Secondhand in Stuttgart: Eine einzige Kundin bringt 90 Teile

Seit fast 25 Jahren hat Kurz ihre Boutique hier. Sie hat beobachtet, wie sich das Kaufverhalten verändert hat: Mal bringt eine einzige Kundin 90 Teile – kaum getragen. Oder drei identische Mäntel in verschiedenen Farben. „Das Konsumverhalten ganz vieler Leute ist wirklich maßlos.“ Oft muss die 56-Jährige einen Annahmestop einlegen, weil die Kleiderstangen überquellen. Sybille Kurz nimmt Kleidung auf Kommission an. Was nach drei Monaten nicht verkauft wurde, müssen die Kundinnen wieder abholen.

Schülerinnen stöbern bei Sybille Kurz genauso wie Anwältinnen oder Ärztinnen. Nachhaltigkeit und der günstigere Preis seien die Hauptgründe, warum Menschen Secondhand kaufen, glaubt die Boutiquebesitzerin. Das deckt sich mit der Statistik: Bei einer Umfrage im Jahr 2024 gaben mehr als 40 Prozent der Deutschen an, schon einmal Secondhandkleidung gekauft zu haben. Als wichtigsten Kaufgrund nannte der Großteil der Befragten die Kostenersparnis. „Viele Leute wollen gut angezogen sein, ohne Unsummen für Klamotten auszugeben“, sagt Kurz.

Mode der 80er und 90er: Vintage Markt in der Tübinger Straße

Junge Leute, die Originalteile aus den 80er und 90er Jahren suchen, schickt Sybille Kurz schräg über die Straße zum Vintage Markt von Christina Feldmer (Tübinger Straße 74). Die 27-Jährige hat ihr Geschäft mit dem grün-romantischen Innenhof 2017 gleich nach dem Abi gegründet, zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter. 2023 war der Vintage Markt ein Jahr lang zu – „meine Schwester hat ein Kind bekommen und wir waren in Babypause“. Seit 2024 ist die Boutique wieder da.

Christina Feldmer im Innenhof ihres Vintage Markts. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Christina Feldmer sucht ihre Vintage-Teile bei spezialisierten Händlern aus ganz Europa und darüber hinaus. „Die Sachen von früher haben eine ganz andere Qualität“, sagt die 27-Jährige. Das fange bei den Stoffen an. Teile aus reiner Wolle oder Seide sind heute rarer, „und ,Made in Germany’ gibt es bei Kleidung ja kaum noch.“

Stuttgarts Retro-Ecke: Secondhand- und Vintage-Läden am Marienplatz

  • Tübinger Straße 70: Second Dreams
  • Tübinger Straße 74: Vintage Markt
  • Tübinger Straße 97: Die Schöpfung
  • Tübinger Straße 105: Secondhand and more
  • Hauptstätter Straße 148: Stoffwechsel

Feldmer trägt selbst fast nur Vintage, „denn die nachhaltigste Mode ist die, die es schon gibt“. Als sie in Paris eine Modeausbildung machte, verliebte sie sich in die Sträßchen im Trendviertel Marais, wo ein Secondhandladen am anderen liegt. „Die Tübinger Straße ist eine Miniversion davon – hier gibt es so viele Cafés, kleine Kreativläden und eben Secondhand.“

Secondhand boomt: „Einstellung zu Secondhand hat sich komplett verändert“

„Preloved“-Mode boomt: 2013 lag der Umsatzanteil von Secondhandkleidung am deutschen Modemarkt noch bei knapp vier, 2024 bei über neun Prozent. Eine, die über Jahre beobachten konnte, wie sich Secondhand aus der Grabbeltisch-Ecke befreit hat, ist Andrea Neuberger. Ihre Boutique Second Dreams in der Tübinger Straße 70 gibt es seit 1994. „Die Einstellung zu Secondhand hat sich komplett verändert“, erzählt die 64-Jährige. „Inzwischen ist bei vielen angekommen, wie viel tolle Mode man auch gebraucht finden kann.“ Ihre Kundschaft hat sich mit der Zeit verjüngt, sie hat aber auch Stammkundinnen, die seit 30 Jahren kommen.

Andrea Neubergers Second Dreams gibt es seit über 30 Jahren. Foto: StZN/Schäfer

Auch Andrea Neuberger nimmt Ware auf Kommission. „Wir müssen aber viel ablehnen, weil wir sonst überschwemmt würden.“ Teile von Fast-Fashion-Marken wie Shein oder Primark nimmt Second Dreams „aus Prinzip nicht – diese Unternehmen sind für Klima und Umwelt der Albtraum“. Bei Jeans wollen ihre Kundinnen nur aktuelle Schnitte, Baggy zum Beispiel, auf Skinny-Jeans würde sie sitzenbleiben. Regelmäßig packt Neuberger Spendenkisten für Frauenhäuser oder die anglikanische Kirche in Stuttgart.

Second Dreams – Die Nachfolgerin arbeitet bereits mit

Vor der Tür von Second Dreams liegen zwei Stolpersteine. Sie sind für Max und Sofie Mayer, die hier einen Laden für „Gebrauchtwaren aller Art“ führten und von den Nationalsozialisten in den Freitod getrieben wurden. „Das berührt mich sehr“, sagt Andrea Neuberger. „Sie haben praktisch das Gleiche gemacht wie ich und ich fühle mich ihrem Erbe verpflichtet.“ Dass es in der Tübinger Straße 70 auch in den kommenden Jahren mit Secondhand weitergeht, ist schon gesichert: Andrea Neubergers Tochter arbeitet bei Second Dreams bereits mit.

Wenn die 64-Jährige auf die letzten 30 Jahre schaut, kann sie konstatieren: „Die Tübinger Straße hat sich unheimlich positiv entwickelt. Denn früher war das hier nicht die beste Gegend.“ Dass die Straße inzwischen eine kleine Vintage-Meile geworden ist, freut sie, genau wie Sybille Kurz von Die Schöpfung: „Wer Preloved sucht, geht in die Tübinger Straße – denn wenn man in einem Laden nichts findet, kann man gleich im nächsten Geschäft weiterschauen.“