Sie hören zum Jahresende als ARD-Korrespondentin in London auf. Warum? Warum jetzt?

Ich habe diesen Job jetzt mit Unterbrechungen seit 2008 gemacht. Nach fast 17 Jahren ARD London hatte ich das Gefühl, ich muss noch mal etwas Neues machen, mal wieder herausfinden, was eigentlich in der Welt sonst noch so los ist. Ich habe ja früher auch aus anderen Ländern berichtet, zum Beispiel aus Osteuropa, und würde auch gern wieder mal dorthin schauen. Aber grundsätzlich werde ich in London bleiben, seit dem Sommer bin ich ja auch Britin.

Sie haben 2014 schon einmal aufgehört und haben dann 2019 wieder als Korrespondentin gearbeitet – und zwar mitten in der heißesten Phase des Brexits. Hat die Atmosphäre etwas an Ihrer Berichterstattung geändert, am Ton, an der Auswahl der Themen?

In den Jahren vor dem Brexit war die Berichterstattung aus Großbritannien eigentlich im Wesentlichen eine über dieses „seltsame“ Volk. Damals habe ich sehr viel mehr versucht, die Mentalität der Briten zu verstehen und hinter das Klischee zu gucken, kritisch, aber auch mit einem Augenzwinkern: Stimmt das wirklich, dass die alle so witzig sind? Was ist mit den Schlossherren? Ab 2016, mit dem Referendum über den Brexit, war das dann vorbei. Das war ja letztlich der erste Ausbruch des Rechtspopulismus in Europa, und das Land begann danach erst mal wirklich durchzudrehen. Vor allem als Boris Johnson 2019 in die Downing Street einzog. Damit begann das mit Abstand verrückteste Jahr meiner gesamten Korrespondentenkarriere. Da habe ich wirklich jeden Tag auf dem „Green“ gegenüber vom Parlament gestanden und jeden Tag geschaltet. Kommt der harte Brexit, oder kommt er gar nicht? Es stand in dem Jahr ja teilweise noch auf Messers Schneide, ob das überhaupt passiert. Das war eine so unglaublich aufgeheizte Debatte jeden Tag, dass regelmäßig ein Krankenwagen vorbeikam, weil Abgeordnete auch schon mal mit Nervenzusammenbrüchen aus dem Parlament getragen wurden. Es gab damals ja auch viele Tories, die dagegen gekämpft haben, die den Brexit noch verhindern wollten, jedenfalls den harten Brexit. Aber Boris Johnson hat den dann trotzdem durchgesetzt, indem er die gesamte konservative Mitte aus der Partei geworfen hat. Ein Schlag, von dem sich die Partei bis heute nicht erholt hat.

In Ihrem Buch „London Calling“ haben Sie geschrieben, dass nach dem Referendum „ein hässlicher scharfer Ton“ ausgebrochen sei. Haben Sie das auch persönlich gespürt? Dass Sie als Deutsche plötzlich nicht mehr so akzeptiert waren?

In den Jahren unmittelbar danach schon. Das ging allen Europäern so. Eines Morgens, als ich von der Berichterstattung zurückkam, stand plötzlich auf meinem Boot ein Riesenblumenstrauß mit den Worten „Please don’t go“. Ich war völlig schockiert, ich hatte noch gar nicht so weit gedacht, dass mich das ja auch betrifft. Aber das war dann so, ich fühlte mich plötzlich nicht mehr so zu Hause wie vorher. Das hat sich jetzt alles in gewisser Weise beruhigt, aber für mich liegt schon weiter so etwas wie ein Schatten über dem Land. Deswegen habe ich auch dieses Jahr die britische Staatsbürgerschaft angenommen, weil ich gedacht habe, okay, wenn ich hier bleiben will, und das möchte ich, dann will ich auch wirklich dazugehören. Aber daran habe ich auch gemerkt, wie anders es geworden ist. Vor 2016 wäre ich nie auf die Idee gekommen, einen britischen Pass zu beantragen. Warum auch?

Annette Dittert bei der Arbeit in LondonAnnette Dittert bei der Arbeit in LondonAnnette Dittert

Sie haben vorher oft auch über kleine Geschichten am Rande berichtet: die Upper Class bei der Fuchsjagd, die Exzentriker beim Cricket und so weiter. Das kommt einem heute vor wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit.

Gefühlt aus einem anderen Jahrhundert, weil seitdem so viel passiert ist. Das sind natürlich alles Klischees. Aber wie alle Klischees haben die auch einen wahren Kern. Die sind schon sehr anders als wir, die Briten und die Engländer. Und Großbritannien ist ein sehr viel komplizierteres Land, als wir denken, viel fremder, als wir denken. Ich erlebe immer wieder Leute, die da hinkommen und denken, ich kann ja Englisch, ich kenn das ja alles aus „Downton Abbey“. Das dauert ein bisschen, bevor man versteht, was man alles nicht versteht. Ich habe sehr lange gebraucht, um das Land wirklich zu begreifen.

Sie haben mal am Beispiel eines Besuchs im kleinen Dorf Tissington geschildert, wie sie irgendwann den unschuldigen Blick auf diese Mentalitäten verloren haben.

Tissington ist ein gutes Beispiel. Das ist ein Dorf, das einem Schlossherrn gehört, selbst die Farbe der Türen muss so sein, wie er das bestimmt. Die Dorfbewohner haben eine Art Pachtvertrag mit ihm. Das entspricht total dem Klischeebild, das wir von England haben. Ich fand das am Anfang meiner Zeit alles sehr niedlich. Aber als ich nach dem Brexit noch mal hingefahren bin, wurden mir die Schattenseiten viel klarer. Die Menschen in diesem Dorf waren alle immer noch wahnsinnig sympathisch. Aber sie verkörperten eben auch eine ungeheure Ergebenheit in dieses nach wie vor existierende Klassensystem. Dass man einfach alles so akzeptiert, dass nun einmal alles dem Schlossherrn gehört und dass man diese Tradition hochhält, ohne darüber viel nachzudenken. Es war auch dieses alte feudalistische Denken, das eine wesentliche Rolle beim Brexit spielte. Diese Haltung: „Wir lassen uns doch hier von niemandem was vorschreiben. Wir waren doch das Empire.“ Diese Hintergründe habe ich in den letzten Jahren mehr und mehr versucht zu verstehen: Warum eigentlich dieses Großbritannien, das wir ja immer als das Mutterland der Demokratie gesehen haben, für diese spezifische britische Art des Brexit-Populismus so anfällig war. Und warum es da jetzt mit dem Aufstieg von Nigel Farage demnächst womöglich noch tiefer hineinrutschen könnte. Trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Brexit.

Sie haben auf die politischen Veränderungen immer mit einer klaren Haltung reagiert. Dafür sind Sie in Großbritannien auch angegriffen worden, sogar von Politikern.

Schon während des Brexit-Referendums hat das Lager, das dafür war, chronisch gelogen. Da gab es zum Beispiel diesen berühmten Bus, auf dem stand, dass man durch den Brexit 350 Millionen Pfund pro Woche sparen könnte, die man dann ins Gesundheitssystem stecken würde, eine Zahl, die immer falsch war: Das haben einige der Brexiteers auch hinterher zugegeben. Darauf habe ich immer wieder hingewiesen. Ich habe diese Lügen als Lügen benannt. Ich habe dann auch regelmäßig in britischen politischen Magazinen geschrieben und auf Twitter immer auf Englisch gepostet, dadurch war ich als Figur auch in Großbritannien präsent. So geriet ich dann mit in diese Attacken gegen Journalisten und wurde von bestimmten Mitgliedern der Tory Partei als „activist journalist“ bezeichnet oder als „Anti-Regierungs-Aktivistin“. Dabei habe ich einfach nur versucht, das zu tun, wozu ich mich als öffentlich-rechtliche Journalistin verpflichtet fühle, auch im Ausland: nämlich zu sagen, was ist, und auch Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie ihr Volk belügen. Damals begann ein Verfall der politischen Kultur, den ich bis heute für gravierender halte als den rein wirtschaftlichen Schaden, den der Brexit angerichtet hat. Wobei das natürlich Hand in Hand geht.

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Das Missverständnis, dass journalistische Ausgewogenheit bedeutet, jede Unwahrheit ernst zu nehmen, wenn genug Leute an sie glauben, hat sich auch in Großbritannien ausgebreitet, das konnte man zuletzt auch wieder in der Debatte um die BBC sehen. Wie haben Sie diese Verschiebung wahrgenommen?

Das Konzept der impartiality, der Unparteilichkeit, ist in den Statuten der BBC sehr schwammig formuliert. Das wurde rund um das Brexit-Referendum von den Befürwortern des Brexits benutzt, um sehr viel Druck auf die BBC auszuüben. Diese Verschiebung fing auch genau in dieser Zeit an, und das ging dann so weit, dass es nicht mehr reichte, zu berichten, „was ist“. Sondern dass der Zwang entstand, immer beide Seiten gleichmäßig im Programm zu haben. Das kennt man mittlerweile ja unter dem Namen „false balance“. Wenn es also zum Beispiel darum ging, die möglichen finanziellen Schäden des Brexits einzuschätzen, dann gab es vielleicht 90 Wirtschaftswissenschaftler, die gesagt haben: „Um Gottes willen, das wird teuer und schwierig.“ Dann mussten die Kollegen bei der BBC aber so lange suchen, bis sie den einen gefunden haben, der gesagt hat: „Das wird super.“ Und die beiden wurden dann gleichwertig ins Programm gehoben. So entsteht dann der falsche Eindruck, dass das letztlich fifty-fifty ist. Und das ist dann eben keine unabhängige Berichterstattung mehr, die den Fakten und der Wahrheit verpflichtet ist.

Wie beurteilen Sie die Diskussion um den geleakten internen Bericht und die Trump-Doku der BBC? Fanden Sie es richtig, dass der Generaldirektor Tim Davie und die Nachrichtenchefin Deborah Furness zurückgetreten sind? Und dass sich der Sender bei Trump entschuldigt hat?

Die Entschuldigung zur Trump-Doku finde ich richtig, das war ein grober handwerklicher Fehler. Man kann eine Rede nicht so zusammenschneiden, ohne das kenntlich zu machen. Über die anderen Punkte in dem Bericht kann man streiten. Dass deswegen aber ein Intendant und eine Nachrichtenchefin zurücktreten, ist völlig unverhältnismäßig gewesen. Das hatte vor allem mit dem Aufsichtsgremium zu tun, das immer zur Hälfte direkt von der Regierung besetzt wird und besonders mit einem Mitglied, Robbie Gibb, der noch von Boris Johnson eingesetzt wurde und der vor Zeugen Sätze gesagt haben soll wie „Wenn sich das Ganze hier nicht grundsätzlich ändert, dann jage ich den ganzen Laden in die Luft“. In seinem Abschiedsbrief ließ Tim Davie, der Intendant, auch durchblicken, dass die Kritik an der BBC hier als Waffe gegen sie eingesetzt werden sollte. Und dass er deshalb hinwirft, weil er die Nase voll hat. Dabei gibt es an der BBC genauso viel Kritik von rechts wie von links. Das Ganze zeigt vor allem, wie schwer es ist, in Zeiten eines polarisierten Kulturkampfes noch ein Gatekeeper zu sein.

Auch in Deutschland gibt es gerade die Debatte, ob die ARD zu links ist. Ist das vergleichbar?

Der große Vorteil der ARD ist, dass ihr System im Grundsatz auf Unabhängigkeit basiert. Das haben uns ja ironischerweise die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg verordnet. Bei sich selbst haben sie das damals nicht für nötig gehalten, das rächt sich jetzt. Grundsätzlich denke ich, dass es der falsche Ansatz ist, zu sagen, wir brauchen mehr linke oder mehr rechte Journalisten. Du musst guten Journalismus machen, und der ist nicht links oder rechts. Kein Journalist ist ganz neutral, aber er darf sich nicht auf einer politischen Seite verorten, sondern muss seinen Job machen, das heißt: sachlich und unabhängig berichten.

Jetzt haben wir gar nicht über Emilia geredet – das Hausboot, auf dem Sie leben. War diese Form des Wohnens für Sie auch immer ein Symbol dafür, dass Sie im Prinzip jederzeit woanders hingehen können?

Ich glaub schon. Zunächst war für mich wichtig, dass ich einen Ort und eine Art zu wohnen gefunden hatte, mit der ich mich bis heute sehr wohl fühle und die mich auch finanziell unabhängig macht. Und damit auch innerlich: Dass ich immer das Gefühl hatte, ich kann machen, was ich will. Ich kann auch einfach wegfahren mit dem Boot oder etwas ganz anderes machen, ohne mir darüber Gedanken zu machen, ob ich mir das erlauben kann. So zu leben, heißt auch frei zu sein, jederzeit etwas Neues anfangen zu können. Und das mach ich eben jetzt.