Es gibt Geschichten, die lassen sich nur erzählen, indem man sie in andere Geschichten packt. Wieso? Nun, weil es nicht um eine einzelne Person geht; nicht um einen Helden, der loszieht, um Ruhm und Reichtümer zu erlangen. Sondern um einen Ort, ein ganzes Land, so etwas Abstraktes wie Zeit, wie man sich ein Fünkchen Zuversicht inmitten absoluter Dunkelheit erhält – und auch um das Gefühl, wie es war, ein Kind zu sein. Hört sich kompliziert an? Ist es im neuesten Streich der bildundtonfabrik aber gar nicht. Ich schließe also die Tür auf in: The Berlin Apartment.

Als ich vor einer Handvoll Monaten zufällig über die spielbare Demo des im charmanten Comic-Looks gehaltenen Indie-Spiels gestolpert bin, fiel ich hinein in das Leben der Figur Josef Liebermann. Einem zwar fiktionalen Kinobetreiber, der sich aber das sehr reale Schicksal mit den hunderttausenden Jüd*innen des Jahres 1933 teilt, die von den Nationalsozialisten mit Berufsverbot belegt wurden – und verhaftet, drangsaliert, abgeschoben und ermordet. Aber das ist nur eine von vier weiteren Geschichten aus diesem starken Story-Spiel.

The Berlin Apartment: Leben, Lieben und Leiden in BRD, DDR & Diktatur

Vorneweg: Dass The Berlin Apartment das Kunststück gelingt, seine thematische Ernsthaftigkeit auf einem stets sanften Story-Bett abzufedern, ist ein kleines Wunder – und hat viel mit zweierlei zu tun. Einmal damit, woran sich das Spiel erzählerisch aufgehängt. Das narrative Fundament für all die anderen Geschichten steht auf den Schultern von zwei Personen, nämlich der Zweitklässlerin Dilara und ihrem Vater Malik. Der praktisch veranlagte Zimmermann nimmt seine Kleine – und damit mich als Spieler – mit auf die Arbeit in eine Berliner Altbauwohnung mit hohen Decken. Und während dieser Renovierungsarbeiten tauchen unter Kinderhänden immer wieder Spuren der Vergangenheit auf.

Ein Screenshot aus dem Videospiel The Berlin Apartment. Wer das Easter Egg auf dem Briefkasten unten links erkennt, mag Metroidvanias vermutlich gerne. Credit: btf / ByteRockers‘ Games / PARCO GAMES, Screenshot 4P.de

Alle Pädagog*innen und Eltern wissen: Kinder in Dilaras Alter wollen beschäftigt werden, und so macht Malik aus der Not eine Tugend, spannt „meinen Frosch“ – wie er seine Kleinste liebevoll nennt – bei der Renovierung ein. Und so kommt es, dass ich während der Rahmenhandlung im Jahr 2025 meine nicht vorhandene, handwerkliche Ader ausleben darf: Fliesen mit einem Hammer weghauen; durchnässte Kartonagen, rostige Leselampen, abgegriffene Tennisbälle und sonstigen Zivilisationsmüll die Bauschuttrutsche hinunter pfeffern – und dabei zufällig immer wieder Spuren der Vergangenheit freilegen.

Ein hinter Küchenfliesen steckengebliebener Brief, ein handgefertigtes Stück Weihnachtsschmuck, und ähnliche Fundstücke mehr, die mich als Spieler zurück katapultieren zu demselben Datum, an dem jetzt gerade Dilaras Vater das Apartment auf Vordermann bringt – nur in anderen Jahren; zurück in die Vergangenheit also. 1933, 1945, 1967 und 1989 — Nicht einfach irgendwelche Jahre, sondern solche, die entscheidende Wendepunkte unseres Landes markieren. Die Geschichte des eingangs erwähnten Josef Liebermann, Kinobesitzer älteren Semesters, der vor den Nationalsozialisten Reißaus nimmt, wird auf einer dieser historischen Haltestellen skizziert.

Ein Screenshot aus dem Videospiel The Berlin Apartment. Das Prinzip Zeitkapsel funktioniert so: Box auf, Erinnerungsstücke rein, Klappe zu – und Jahrzehnte später Menschen überraschen, die man niemals kennenlernen wird. Credit: btf / ByteRockers‘ Games / PARCO GAMES, Screenshot 4P.de

Wobei Herr Liebermann, wie vorerwähnt, nur einen Tag im Leben eines Menschen neben einigen weiteren entlang der Zeitleiste darstellt. Diese nebeneinander gelegten Zeitebenen funktionieren nicht nur deshalb so hervorragend, weil ich als Spieler ein und dieselben vier Wände immer wieder neu entdecken darf, sondern weil der historisch aufgeladene Kontext der jeweiligen Episoden – egal, ob Ende des Zweiten Weltkriegs oder Fall der Berliner Mauer – jeweils durch kindliche Leichtigkeit aufgelockert wird. Der andere Grund, wie The Berlin Apartment der Spagat zwischen Inhalt und Form gelingt, hat – Grafik sei Dank – mit der, nun ja, Form zu tun.

Man spricht deutsch – und spielt es auch

Das Bild der ineinander verschachtelten Matrjoschka-Puppe drängt sich auf, denn: Nach jeder Erinnerungsreise kehre ich wieder ins Jahr 2025 zurück, erlebe als Grundschülerin Dilara Leichtigkeit zusammen mit meinem geduldig-liebevollen Vater, bemale mit Wachsmalstiften Wände oder dekoriere ein provisorisch aus Umzugskartons gebasteltes Schloss mit Actionfiguren. Abseits von einer für die Kunstform Videospiel angenehm unkonventionellen Art des Geschichtenerzählens war The Berlin Apartment dabei zu jeder Zeit eine Wohltat für meine Augen.

Ein Screenshot aus dem Videospiel The Berlin Apartment. Vater Malik ist fleißig am Tapeziertisch zugange, während ich als Dilara mit Wachsmalstiften Wände beschmiere. So geht Aufgabenteilung. Credit: btf / ByteRockers‘ Games / PARCO GAMES, Screenshot 4P.de

Fast jeden einzelnen Spielmoment möchte ich als Screenshot festhalten und einrahmen. Es sind diese weichen Farbverläufe; diese wie mit Aquarellfarben gepinselten Schatten; diese leicht überzeichneten Charaktermodelle; sie alle schmeicheln dem Auge. Ungelogen: Bei wem sich der Puls nach auch nur ein paar Sekunden im Spiel nicht angenehm entschleunigt, sollte wirklich mal auf das Zucker in seiner Coke Zero verzichten – aber Spaß und Zuckerwasser beiseite: Nachdem ich knapp 700 Wörter über erzählerischen Aufbau und grafische Glanzpunkte schwadroniert habe, ist und bleibt bei einem Videospiel die Gameplay-Frage zu erklären.

Die kurze Antwort darauf lautet für The Berlin Apartment: Wer an dieses Story-Spiel mit der Einstellung „Gameplay zuerst, Storytelling später!“ herangeht, ist bei der bildundtonfabrik an der falschen Adresse – oder sollte lieber beim Metroidvania Constance vorbeiklicken. Schließlich beschränkt sich das eigentliche Gameplay darauf, stets aus der Ego-Perspektive (ja, man kann am eigenen Körper hinunterschauen!) durch Räume zu spazieren und auf Gegenstände zu klicken, was dann – Point-and-Click-Adventures lassen grüßen – eine Aktion auslöst, oder den Spielcharakter dazu veranlasst, einen Kommentar abzugeben.

Ein Screenshot aus dem Videospiel The Berlin Apartment. The Berlin Apartment zeigt nicht, wie schlimm Krieg wirklich ist – legt mir in Multi-Choice-Dialogen trotzdem wichtige Fragen dazu in den Mund. Gut so. Credit: btf / ByteRockers‘ Games / PARCO GAMES, Screenshot 4P.de

Zugegeben: Es gibt Dinge, die das typisch Walking Simulator-mäßige Gameplay immer wieder clever aufbrechen. Beispielsweise als unglücklich in der DDR festsitzender Genosse Kolja bastele ich Papierflieger und muss dann das möglichst aerodynamisch gefaltete Papier im Rahmen eines kleinen Geschicklichkeitsspiels über die Mauer bringen – bis der papierne Adler bei einer Brieffreundin im demokratischen Westen landet. Oder als kleines Mädchen Mathilda trage ich – die damalige Alltagsrealität der Trümmerfrauen des Nachkriegsdeutschlands wird im Ansatz greifbar gemacht – ein Körbchen am Arm. Und wühle mich auf der Suche nach provisorischem Christbaumschmuck durch Schutt und Geröll.

Doch was war eigentlich die schönste Gameplay-Besonderheit für mich?