Kaum eine Doku hat in den vergangenen Wochen so viel öffentliche Aufmerksamkeit erregt wie „Babo“ – die Biografie des Offenbacher Rappers Haftbefehl. Die Dokumentation des Streamingriesen Netflix zeichnet seinen Aufstieg im Musikgeschäft nach, beleuchtet seinen Kampf mit Drogen und psychischen Krisen und gibt intime Einblicke in Ehe und Familienleben.
Haftbefehl: Landesjugendbeirat in BW will Rapper im Lehrplan sehen
Nach der Veröffentlichung der Doku hatte der Offenbacher Stadtschülerrat gefordert, Haftbefehls Texte in den Unterricht aufzunehmen – mit der Begründung, sie spiegelten die Lebensrealität vieler Jugendlicher wider. Hessens Kultusministerium lehnte dies ab. In Baden-Württemberg bringt nun auch der Landesjugendbeirat (LJB) die Forderung auf die Agenda. Er will Haftbefehl im Lehrplan sehen. Anders als in Hessen zeigt sich die Politik hier zwar offener für die Debatte, lehnt eine feste Aufnahme in den Lehrplan jedoch bislang ab.
Der LJB existiert erst seit diesem Jahr und soll Jugendlichen auch mehr Mitspracherecht bei Bildungsthemen geben. Vorsitzender Abdi Ahmed betont, die Haftbefehl-Doku sei Auslöser für eine wichtige Diskussion gewesen. Viele Jugendliche könnten sich mit Künstlern wie Haftbefehl identifizieren. Seine Texte spielten eine wichtige Rolle in ihrem Alltag – und sollten deshalb auch im Unterricht behandelt werden.

Abdi Ahmed ist Vorsitzender des Landesjugendbeirats Baden-Württemberg.
Lehrerin: „Schon Sechstklässler hören Haftbefehl“
Die Freiburger Realschullehrerin Eva Maria Strittmatter kann sich gut vorstellen, Haftbefehl im Unterricht einzusetzen. Sie möchte ihre Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebenswelt abholen und dabei Themen wie Drogenmissbrauch, soziale Ungleichheit, Herkunft und Zukunftschancen besprechen und einordnen.
Dass das hessische Kultusministerium die Texte wegen mangelnder Vereinbarkeit mit dem Bildungsplan ablehnte, kann sie nicht nachvollziehen. Im Gegenteil: Gerade weil die Inhalte herausfordernd seien, müsse man sie im Unterricht kritisch aufgreifen.
Strittmatter, die den Jungen Verband Bildung und Erziehung (VBE) in BW leitet, berichtet von einer Klassenfahrt, auf der Zehntklässler intensiv über die Doku diskutierten – besonders über die Beziehung des Rappers zu seiner Frau. Viele Schülerinnen fragten sich, warum seine Ehefrau all das mitmache und sich nicht trenne. Zudem höre sie an ihrer Schule bereits von Sechstklässlern, dass sie Haftbefehl hörten und wie ihre Sprache beeinflusst werde. All das müsse pädagogisch aufgefangen werden.
Kultusministerium setzt auf Entscheidung der Lehrkräfte
Das grün-geführte Kultusministerium in BW teilt auf Anfrage des SWR mit, dass Lehrkräften grundsätzlich freistehe, moderne Songtexte, Musik, Dokumentationen und Biografien von Rap-Künstlern wie Haftbefehl im Unterricht zu behandeln – sofern die Inhalte mit dem Bildungsplan vereinbar seien.
Der Rapper provoziere kontroverse Debatten, indem er Themen wie Antisemitismus, Sexismus, Gewaltfantasien und die Glorifizierung von Rauschmitteln in seinen Liedtexten verarbeite. Entscheidend sei, in welchem Kontext diese Inhalte besprochen würden.
Stuttgart

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CDU-Bildungsexperte warnt vor problematischen Inhalten
Der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, Andreas Sturm, lehnt eine feste Aufnahme Haftbefehls in den Lehrplan ab. Zwar sei der Künstler Teil der Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher, doch die Glorifizierung von Drogen und sein Umgang mit Frauen seien problematisch.
Lehrkräfte müssten einen kritisch-reflektierten Zugang ermöglichen und berücksichtigen, dass manche Schülerinnen und Schüler traumatische Erfahrungen gemacht hätten, die durch solche Inhalte getriggert werden könnten. Sturm plädiert dafür, den Einsatz im Unterricht den Lehrkräften selbst zu überlassen.
Landesjugendbeirat fordert Unterstützung für Lehrkräfte
Abdi Ahmed vom Landesjugendbeirat widerspricht: Es gehe nicht um eine Glorifizierung des Rappers, sondern um eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Texten. Die Geschichten und Hintergründe müssten erklärt werden, um Jugendliche mitzunehmen.
Wenn Schulen diese Themen nicht aufgreifen, werde Potenzial verschenkt – gerade weil viele Jugendliche niemanden hätten, der die Inhalte für sie einordnet. Der Landesjugendbeirat fordert daher nicht nur eine Aufnahme in den Lehrplan, sondern auch Unterstützung der Lehrkräfte durch das Ministerium – etwa in Form von Begleitmaterial oder Fortbildungen.
Haftbefehl soll nicht Goethe ersetzen
Außerdem ist Ahmed ein Aspekt wichtig – weil das oft in der Diskussion um den Rapper Thema sei, es gehe nicht darum, alte Literatur, wie von Goethe, gegen Haftbefehl auszutauschen. Er habe zum Beispiel Woyzeck von Georg Büchner in der Schule gelesen. „Da geht es ja um einen Femizid, also um eine sexistische Handlung“, so der Vorsitzende des Landesjugendbeirats. Und so könne man sich doch beim Thema Sexismus überlegen, wo begegnen Jugendlichen vielleicht auch sexistische Texte im Alltag und wie lässt sich das verbinden im Unterricht – also ergänzend und nicht ersetzend.