Nach dem eskalierten Polizei-Einsatz gegen eine gehörlose Zwölfjährige in Bochum scheint sich der Gesundheitszustand des Mädchens etwas gebessert zu haben. „Ich habe heute Morgen erfahren, dass das Mädchen aktuell wach und ansprechbar ist“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Freitagmorgen in einer von SPD und FDP beantragten Sitzung von Innen- und Familienausschuss im Düsseldorfer Landtag. „Das ist eine gute Nachricht“, so Reul. Außer Lebensgefahr ist das Mädchen aber noch nicht.

Die Zwölfjährige war bei dem Einsatz in der Nacht zum 17. November in der Wohnung der Mutter im Oberkörper (Durchschuss im Brustbereich) getroffen und mit zunächst lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht worden. Laut Staatsanwaltschaft hat ein Polizist mit der Dienstwaffe und ein weiterer Beamter mit dem sogenannten Taser auf das Mädchen an der Wohnungstür im Treppenhaus geschossen, weil es sich mit zwei Messern bis auf etwa zwei Meter auf die Beamten zubewegt haben soll. Zuvor soll sich das Mädchen in der Küche mit ihrem Bruder eingeschlossen haben. Ihre Mutter, die emotional sehr aufgewühlt gewesen sein soll, als die Polizisten bei ihr vor der Tür standen, wurde laut Staatsanwaltschaft zuvor am Boden fixiert. Die Mutter und der erwachsene Bruder des Mädchens sollen ebenfalls gehörlos sein. Ihren Bruder soll das Mädchen laut Staatsanwaltschaft ebenfalls kurzzeitig mit dem Messer bedroht haben.

Der Anwalt des Mädchens, Simón Barrera González, warf der Landesregierung und den Ermittlungsbehörden fehlende Neutralität vor. „Da ist so viel offen. Deshalb empfinde ich es als extrem besorgniserregend, dass die Strafverfolgungsbehörden und insbesondere auch der Minister Reul sich so frühzeitig auf die Darstellung einer angeblichen Notwehrsituation festlegen“, sagte er.

Die Polizisten seien in dem Treppenhaus nicht in die Enge getrieben gewesen und hätten sich der Situation einfach erstmal entziehen können. „Man stand eben nicht mit dem Rücken zur Wand“, betonte der Anwalt.

„Wenn wirklich eine solche Eile bestand wegen der Medikamente, warum hatte die Polizei die Medikamente dann nicht dabei? Warum legt man nicht einfach das Medikament vor die Tür – und bei Tageslicht lässt sich die Situation dann ohne Waffen klären?“

Ermittelt wird gegen einen Beamten wegen versuchten Totschlags und gegen den zweiten Beamten wegen des Vorwurfs der Körperverletzung im Amt.

Zwölfjährige brauchte lebenswichtige Medikamente

Das Mädchen lebt eigentlich in einer Wohngruppe außerhalb des Ruhrgebiets, war von dort aber verschwunden und deshalb von seinen Betreuern als vermisst gemeldet worden. Weil klar war, dass das Mädchen auf lebenswichtige Medikamente angewiesen ist, wurde mit Hochdruck nach dem Kind gesucht. Es sei klar gewesen, dass die Zwölfjährige noch in der Nacht ein wichtiges Medikament nehmen musste, „weil sonst eine Lebensgefahr entstehen kann“, betonte Reul. „Je später es wurde, desto mehr kamen die Polizisten in die Situation, dass sie wussten, es wird für das Mädchen ohne die Medikamente gefährlich.“ Der Mutter war das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter entzogen worden, weil es in der Vergangenheit immer wieder zu Notfallsituationen gekommen sei, so der Oberstaatsanwalt.

Familie ist gehörlos: Schwieriger Einsatz für Beamte

Besonders schwierig war der Einsatz wohl dadurch, dass Tochter, Mutter und Bruder gehörlos sind. Einen Gebärdendolmetscher hatte die Polizei bei dem Einsatz nicht vor Ort dabei. Reul will prüfen lassen, wie die Polizei auf solche Situationen besser vorbereitet werden kann. In der kommenden Woche sei ein Austausch mit mehreren Gehörlosen-Verbänden geplant, sagte Reul. „Gibt es vielleicht auch in der Aus- und Fortbildung der Polizei noch Möglichkeiten, auf Fälle wie diese besser vorzubereiten?“, so der Landesinnenminister. Auch die Frage, ob der Polizei für Einsätze mitten in der Nacht genügend Dolmetscher für verschiedene Gebärdensprachen zur Verfügung stünden, werde geklärt.

Eileen Woestmann, Sprecherin für Kinder und Familie der Grünen Landtagsfraktion, forderte vor allem mit Blick auf die besonders vulnerable Situation der gehörlosen Familie eine lückenlose Aufklärung. „Es muss auch darum gehen, das Vertrauen von Menschen mit Behinderungen in das Handeln der Polizei wieder herzustellen“, sagte sie.

SPD-Innenexpertin Christina Kampmann betonte, dass nach wie vor die Gesundheit des verletzten Mädchens im Mittelpunkt stünde. „Der Vorfall zeigt außerdem, wie wichtig es ist, den Umgang mit gehörlosen oder hörbeeinträchtigten Menschen in solchen Situationen zu prüfen und Einsatzkräfte besser zu sensibilisieren“, sagte sie.