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Die Ukraine ist längst als Rüstungsvorbild ausgerufen. Aber wie viel lernt die EU? Eine Ukrainerin mit Einblick erklärt die Lage.

Vilnius – Als sich am Dienstag baltische und deutsche Rüstungsunternehmen in Vilnius zu einer Art Gipfel trafen, war auch die ukrainische Industrie vertreten. Die Kreativität der Ukrainer bei der Selbstverteidigung gilt mittlerweile als Vorbild für Europa – gerade beim Versuch, sich rechtzeitig gegen mögliche Angriffe aus Russland zu wappnen. Aber läuft eine Zusammenarbeit schon an? Und wenn ja, wie gut? Antworten kann Lilia Slobodian geben.

Lilia Slobodian blickt in die Kamera und verschränkt die Arme.Lilia Slobodian vom Verband Tech Force in UA bei der German-Baltic Defence Industry Conference in Vilnius. © Florian Naumann

Slobodian ist beim ukrainischen Verteidigungs-Branchenverband „TechForce in UA” für internationale Kooperation zuständig – und hat allem Anschein nach bei dem Treffen in Litauen einige Visitenkarten gesammelt. Sie beschreibt allerdings Hürden. Wirtschaftliche. Praktische. Und natürlich die Schrecken des Kriegs. Erst in der Nacht sei das Wohnhaus einer Freundin von einer russischen Shahed-Drohne getroffen worden, sagte Slobodian auf dem Podium. Aber auch Fabriken seien betroffen. Im Interview mit dem Münchner Merkur von Ippen.Media erklärt die Lobbyistin, wie sich die Rüstungshersteller in der Ukraine wappnen – und wo sie den Kollegen in der EU voraus sein könnten.

Was die Ukraine der EU liefern will – neben Drohnen: „Wohlstand bringt nicht viel Kreativität“

Frau Slobodian, in Ihrer Podiumsdiskussion gerade hieß es von einem Mitdiskutanten, die Ukraine sei nicht zuletzt als Lieferant von Daten aus dem Schlachtfeld wichtig. Finden Sie als Ukrainerin so eine Sichtweise zynisch?

Zynisch nicht, denn wir sind ja bei einer Verteidigungsindustrie-Konferenz. Feedback-Loops und stetiger Kontakt zum Militär treiben Innovation. Und hier geht es um ein Puzzleteil, das der europäischen – auch der deutschen – Verteidigungsindustrie tatsächlich fehlt. Wir selbst wollen Feedback-Schleifen und Echtzeit-Daten stärken, solche Erkenntnisse müssen unbedingt beeinflussen, welche Waffen und Technologien unser Militär nutzt. Die sollen im Feld funktionieren, nicht nur in künstlichen Testumfeldern. Und der Krieg verändert sich ständig. KI, Robotik, Digitalisierung.

Aber?

Ich persönlich als Ukrainerin, aber auch als Verbandsvertreterin, glaube, dass die Ukraine wesentlich mehr zu bieten hat, als nur Daten. Aus dieser Perspektive ist diese Haltung nicht zynisch – aber ziemlich „westlich”.

Von Taurus bis Leopard – die Waffensysteme der Bundeswehr im ÜberblickDie Bundeswehr ist zu See, an Land und in der Luft mit verschiedenen Waffensystemen präsent.Fotostrecke ansehen

Was hat die Ukraine denn zu bieten?

Nun, wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Ukraine – auf einer Höhe mit dem Feind – am innovativsten ist. Wir haben kampferprobte Innovationen, die skalierbar sind, die kosteneffizient sind. Allerdings ist es schwierig für uns, als Unterauftragnehmer von europäischen Unternehmen zu arbeiten. Europäische Bauteile sind einfach viel teurer als das Endprodukt, das wir in der Ukraine bauen. Das ist nur ein Aspekt, in dem wir aus Sicht der ukrainischen Industrie in unterschiedlichen Welten leben, mit unterschiedlichen Budgets arbeiten. Aber es gibt noch eine zweite Stärke der Ukraine.

Welche?

Wir wissen, wie wir diese Neuerungen militärtaktisch einbauen können. Es geht ja nicht mehr nur um Aufklärungsdrohnen wie 2015. Es geht um Anti-Drohnen-Systeme, um elektronische Kriegsführung – auf beiden Seiten. Da muss man smart vorgehen. Mit Schwarmtechniken. Oder wie bei der Operation „Spinnennetz”. Es geht um Kreativität. Genau das hält uns im Krieg über Wasser. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit.

Europa ist aus Ihrer Sicht nicht so kreativ?

Es tut mir leid, das zu sagen, aber: Wohlstand, Frieden und Stabilität bringen nicht viel Kreativität hervor. Deutschland und seine Unternehmen sind da insgesamt in keiner besonders guten Position. Das ändert sich langsam. Aber eben sehr, sehr langsam, wenn man bedenkt, dass sich Russlands Vollinvasion im vierten Jahr befindet.

Regeln bremsen Rüstung: „Schöne Worte – wenn man glaubt, niemals wirklich kämpfen zu müssen“

Und wie bringt man nun diese beiden Welten in Kooperation?

Jedes Unternehmen, das es mit Verteidigungsinnovationen ernst meint, würde ich ermuntern, in der Ukraine präsent zu sein. Oft vor Ort sein, ein ukrainisches Team finden… Wer in der Ukraine ist, kann einige Lektionen lernen. Die Militärtechnik in der Ukraine kann sich binnen einer Woche verändern, da muss man immer mit den Endnutzern Schritt halten. Ein anderer Punkt sind Regulierungen.

Inwiefern?

Da gibt es in der Ukraine und beispielsweise in Deutschland unterschiedliche Systeme. Es geht gar nicht darum, dass eines besser ist als das andere. Aber es gibt Exportbeschränkungen in der Ukraine und es gibt Barrieren für ukrainische Unternehmen, die auf den deutschen Markt wollen. Es wird viel über Kooperation und technologische Integration geredet. Aber man tut sich schwer, das in der Realität von Regulierung, Beschaffung und Standardisierung wiederzufinden.

Das müssen Sie erklären.

Unsere europäischen Gegenüber betonen oft, dass sie nicht im Krieg sind, dass sie Menschenleben und Sicherheit am stärksten gewichten – und deshalb ihre strengen Standards für Tests und Beschaffung nicht herunterschrauben wollen. Das sind schöne Worte. Aber nur, wenn man glaubt, niemals wirklich kämpfen zu müssen. Wenn zumindest ein entferntes Gefühl für ein Kriegsrisiko besteht, dann muss man das ändern. Deregulierung ist wirklich wichtig.

In der EU hadern viele ohnehin mit der Geschwindigkeit von Rüstungskäufen. Ist die Ukraine da weiter?

Ein Problem, das wir lange hatten: Wenn Innovationen zentral vom Staat eingekauft wurden, waren sie bereits veraltet, bis sie an die Front gelangen. Wir haben uns dafür eingesetzt, das System zu dezentralisieren. Auch, um Menschenleben zu retten.

Was heißt „dezentralisiert” in diesem Zusammenhang? Kaufen einzelne Einheiten Ausrüstung?

Genau. Es gibt neben dem großen, zentralen Staatstopf auch Budgets auf regionaler Ebene, die sind eher klein. Aber Spendensammler und NGOs unterstützen meist Militäreinheiten. Jede Einheit hat ihr eigenes Budget, sie kann selbst wählen, welche Waffen und Produkte sie braucht. Sie weiß, was nötig ist. Viele machen auch selbst Entwicklungsarbeit und verbessern Gerät weiter. Und sie können das Bestellte oft binnen einer Woche erhalten. Sie müssen kein halbes Jahr mehr warten, wie es früher oft der Fall war. Viele Partnerstaaten unterstützen dieses System und bezahlen bestimmte Lieferverträge.

Womöglich auch wegen des Themas Korruption?

Ja, auf diesem Weg kann man die Sorge vor Korruption lindern. Unterstützer können ein Vertrauensverhältnis zu einer bestimmten militärischen Einheit aufbauen und die ganze Operation im Auge behalten.

Putins Luftschläge: „Neue Produktionsstätten binnen 72 Stunden“

Sie machen Ihren Job seit einem Jahr. Haben Sie in dieser Zeit schon Trends in der internationalen Kooperation feststellen können?

Es hat sich sehr viel verändert! Mangel an Finanzierung ist ein Grund, warum wir ungenutzte Produktionskapazitäten hatten und haben. Aber mit Trump auf der einen und Europa auf der anderen Seite wird mehr und ernsthafter über strategische Unabhängigkeit – auch von China – nachgedacht. Deshalb will man die ukrainische Verteidigungsindustrie stärken. Ich glaube, dass die Ukraine ein Trumpf Europas ist. Deutschland hat das Geld, aber die Ukraine hat die Innovationen und die Erfahrung. Dass sich jetzt die Niederlande, Dänemark, Deutschland – zum Beispiel in der Produktion weitreichender Waffen – engagieren, ist ein echter Schritt. Es ist angekommen, dass man nicht nur die Hilfsbudgets erhöhen, sondern auch die Mittel effizient einsetzen muss. Auch die Industrie ist aufgewacht. Trotz all der russischen Luftschläge kommen immer öfter Delegationen nach Kiew.

Sie haben auf dem Podium die Luftschläge erwähnt. Treffen die auch die Verteidigungsindustrie?

Erst im Oktober haben wir unsere Mitglieder befragt, ob sie darüber nachdenken, Forschung oder Produktion teilweise ins Ausland zu verlagern – und wenn ja, warum. 90 Prozent der Antworten erwähnten „physische Bedrohungen“ als Hauptgrund für solche Überlegungen. Wir sprechen nicht so laut darüber, aber Russland sieht die Verteidigungsindustrie als eines der wichtigsten Angriffsziele.

Kann man sich darauf irgendwie vorbereiten?

Als zuletzt eine EU-Delegation ukrainische Unternehmen besuchte, versicherten alle, dass sie ausreichend Produktionskapazitäten haben, um auch Europa zu versorgen. Einer der größten ukrainischen Drohnenproduzenten erklärte, er könne binnen 72 Stunden eine neue Produktionsstätte eröffnen. Sie haben das Rezept, den „Algorithmus“ dafür gefunden. Das heißt: Die Gefahr ist real. Aber sie ist auch eine Motivation, Auswege zu finden. (Interview: Florian Naumann)