„Ich hatte in meinem Leben niemals Langeweile“. Als Ortrud Engemann die Tür zu ihrer Wohnung in der Seniorenwohnanlage in Barmen öffnet und der WZ Decken und Wandbehänge präsentiert, die die Wände ihres Schlafzimmers zieren, ist kaum zu übersehen, wie stolz sie auf ihr Hobby ist. Ein Hobby, das die 89-Jährige bereits seit Jahrzehnten begleitet. Bei der sogenannten „Patchwork“, auf Deutsch „Flickarbeit“, handelt es sich um eine Textiltechnik, bei der Stücke oder Reste verschiedener Materialien, häufig Stoffe, zu einem neuen Textil zusammengefügt werden.
Ortud Engemann hat eine bewegte Vergangenheit. Sie ist 1936 geboren, im Hochschwarzwald mit ihrer Mutter und drei Geschwistern aufgewachsen. „Meine Mutter ist in Wuppertal Cronenberg geboren – ich wusste als Kind nie, wo das ist“, erinnert sich die Seniorin lächelnd. Sie selbst nennt vieles von dem, was sie erlebt hat, „schicksalhaft“. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg, nur mit 27 Jahren wurde sie Witwe, war alleine mit einem kleinen Kind. Nach erlebnisreichen Jahren, einer Zeit als Au-Pair in England („als die Suezkrise 1956 aufkam, sagte mir meine Mutter, ich solle schnell nach Hause kommen!“), Aushilfstätigkeiten in der Praxis ihres Onkels in Essen, lernte sie 1971 den Mann kennen, durch den sie an den Geburtsort ihrer Mutter kommen sollte: nach Wuppertal. In den darauffolgenden Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Patchwork-Arbeit. „Den ersten Kursus habe ich in einer Familien-Bildungsstätte gemacht, ungefähr im Jahr 1978, vielleicht war es auch schon 1980“, erinnert sie sich zurück. „Wir haben uns Stücke aus alten Tapeten herausgeschnitten, Dreiecke, Vierecke, und diese dann zusammengesetzt. Es gefiel mir auf Anhieb.“
Frühe Ursprünge dieser Textilarbeit finden sich bereits im alten Ägypten und in China, sie verbreitete sich aus dem Orient bis nach Europa und wurde ab dem 11. Jahrhundert dafür genutzt, Wandbehänge, aber auch zum Beispiel Kleidung herzustellen. Frühere Patchwork-Arbeiten in Amerika entstanden aus der Not heraus, wärmende Decken wurden produziert, „und aus diesen ärmlichen Anfängen entstanden dann ja richtige Kunstwerke. Wunderschöne Wandbehänge zum Beispiel, die in Museen hängen.“ Diese habe sie immer gern besucht, um Inspirationen für ihre eigenen Arbeiten zu sammeln. „Aber etwas kopiert habe ich nie“, betont sie.
Ein Vorteil an der Patchwork, den Engemann hervorhebt, ist, „dass die Arbeit in Gemeinschaft passieren kann. Ich habe das viele Jahre lang mit zwei Freundinnen zusammen gemacht, daraus sind tiefe Freundschaften entstanden.“ Einmal im Monat trafen sie sich, fuhren gemeinsam zu Ausstellungen – von einer der beiden Freundinnen musste sie inzwischen Abschied nehmen, erinnert sich gern zurück an die „Fleißigste“ von ihnen dreien. Und im Laufe ihrer Jahre habe Ortrud Engemann auch sehr traurige, fordernde Zeiten erlebt, in denen ihr Hobby das war, „was mich gerettet hat“, erzählt sie. „Ich bin dadurch nicht im Kummer versunken.“ Manchmal sei sie für die Arbeit in ihre Heimat in den Schwarzwald gefahren, habe sich „dort hingesetzt und in Ruhe genäht“. Im Keller ihres alten Hauses in Barmen habe sie sich ihr kleines Patchwork-Reich aufgebaut, hatte dadurch immer einen Rückzugsort.
Märchenwälder, Gärten und Schneeflocken als Inspiration
Eines ihrer Lieblingswerke nennt sie „Märchenwald“. Zahlreiche Tannen reihen sich aneinander. Mit einer anderen Arbeit versucht sie, die „Hängenden Gärten von Babylon“ abzubilden, von denen sie fasziniert ist. „Ich habe mich immer gefragt, wie die Gärten wohl aussehen mögen. Ob es so stimmt, weiß ich nicht – aber so habe ich sie mir immer vorgestellt“, sagt sie mit Blick auf die Arbeit, für die sie alte, blumige Stoffe zusammengesucht habe, die zu ihrer Vorstellung passten. Für ein Werk beschäftigte sie sich mit der Farbenlehre, ein anderes näht sie aus 1500 Teilen zusammen, beschäftigt sich mit dem Aufbau von Schneeflocken, den einzelnen Bestandteilen, bringt die unterschiedlichen Formen auf Stoffstücken zusammen. Ein Thema, das sie schon lange umtreibt, durch das sie sich mit den Thesen des amerikanischen Schneeforschers Wilson Alwyn Bentley auseinandersetzt, dessen Arbeiten sie faszinieren. Und einem ihrer vier Ur-Enkel kreierte sie eine Decke „mit Dinos – weil er die so gerne mag.“
Ortrud Engemann begleitete die Patchwork ihr ganzes Leben: „Es ist ein wunderschönes Hobby“, sagt sie. „Aber: Man muss es eben auch mögen. Das ist in einem drin, und so war das bei mir.“ Heute verbringe sie nicht mehr so viel Zeit mit der Patchwork; so sei die Arbeit doch langsam sehr mühsam. Aber ihre fertigen Werke zieren weiter ihr Zimmer, Werke, die teils von Kummer, teils von Freude begleitet und dann wieder einfach Zeitvertreib waren. „An manchen Arbeiten habe ich zehn Jahre gesessen. Ja, man könnte schon sagen, es sind Lebenswerke für mich.“