Während die Amerikaner alle Hebel in Bewegung setzen, um den Ukraine-Krieg zu beenden, gibt sich der russische Präsident gelassen. Dabei geht es der russischen Wirtschaft schlecht, und der Druck auf die russische Bevölkerung wächst.

Stefan Scholl, Moskau30.11.2025, 05.30 Uhr

Getty, Imago; Illustration Jasmine Rüegg / NZZaS

Der eine hat es eilig, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, schickt seinen Freund, den Immobilienentwickler und Allzweckverhandler Steve Witkoff, nächste Woche wieder in den Kreml, um endlich Frieden zu stiften. Der andere hat es dagegen nicht so eilig. Donald Trumps Friedensplan nennt Wladimir Putin eine Zusammenstellung von Fragen. 28 oder vielleicht 19 Punkte, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Wladimir Putin ist ganz entspannt.

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Für den russischen Präsidenten ist klar, wann die «Spezialkriegsoperation» in der Ukraine, wie sie offiziell nach wie vor heisst, enden soll. Und zwar erst dann, wenn sich die Ukraine aus den von ihr eingenommenen Positionen zurückziehe, so erklärte er diese Woche während eines Besuchs in Kirgistan. Damit könnte Putin wohl den Rest des Donbass gemeint haben, vielleicht auch die noch nicht eroberten Teile der Oblaste Cherson und Saporischja. Ziehe sich die Ukraine nicht zurück, werde Russland dies auf militärischem Weg erreichen, sagte der Kremlchef gelassen.

Alles nur Show? Wie stark ist Putin wirklich? Wie lange kann der Rohstoffriese Russland tatsächlich den militärischen Druck auf die Ukraine aufrechterhalten?

Ein Artikel der «NZZ am Sonntag»

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Die Ausgabe vom 30. November

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Zum Ende des vierten Kriegsjahres knirscht es hörbar in der russischen Volkswirtschaft. Die Zentralbank hat begonnen, ihre Goldvorräte auf dem inländischen Markt zu verkaufen. Sie hat die Notenpresse angeworfen und kämpft zugleich gegen die Inflation an. Die Duma bewilligte Steuererhöhungen, um die wachsenden Kriegsausgaben zu decken. 40 Prozent des Staatshaushaltes gehen mittlerweile zum Militär. Stahl- und Autobranche lassen kurzarbeiten, weil die Nachfrage sinkt. Und dann sind da noch die Sanktionen der Europäer und Amerikaner. Seit gut einer Woche stehen Rosneft und Lukoil im Bannstrahl des amerikanischen Finanzministeriums. Wer mit den russischen Öl- und Gaskonzernen Geschäfte macht, wird mit Strafen belegt.

Und trotzdem gibt sich Wladimir Putin siegessicher. Er hat seine Gründe.

1. Rezession? Bedeutungslos

Der Internationale Währungsfonds hat seine Wachstumsprognose scharf nach unten korrigiert. Nach 4,3 Prozent 2024 werden für dieses Jahr nur noch 0,6 Prozent erwartet. Die jüngsten Öl-Sanktionen könnten das Wachstum im laufenden Quartal und im nächsten noch weiter drosseln. Doch eine Rezession bedeute nahezu nichts für Russlands Wirtschaft und für die politische Stabilität, erklärte der im Exil lebende russische Ökonom Wladislaw Inosemzew. Die Wirtschaft habe sich an die Kriegssituation angepasst, so die Argumentation. Inosemzews Zentrum für Analyse und Strategien in Europa (CASE) sagt eine lange Periode der Stagnation in Russland mit nahezu null Wachstum über die nächsten zehn Jahre voraus.

Das Loch im Staatshaushalt 2024 von 3,5 Billionen Rubel, umgerechnet 36 Milliarden Franken, wächst dieses Jahr auf voraussichtlich knapp 59 Milliarden Franken. Aber im Vergleich zum derzeitigen Haushaltsdefizit der USA von 1775 Milliarden Dollar klingt das nicht wirklich fatal. Allein die verfügbaren Gold- und Devisenreserven der russischen Zentralbank von etwa 420 Milliarden Dollar würden das russische Militärbudget noch zweieinhalb Jahre decken.

Defizit und andere volkswirtschaftliche Probleme würden in ein paar Jahren zu staatlichen Geldemissionen und weiterer Inflation führen, sagt Inosemzew. «Dieses Problem kann man nicht beseitigen, aber man kann es verschieben. Und Putin will es verschieben, bis er die Ukraine vernichtet hat.»

2. Kriegswirtschaft brummt

Russland führt einen teuren Krieg, seine Rüstungsbranche brummt. 6,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts gibt Moskau dieses Jahr offiziell fürs Militär aus. Das sind 13,5 Billionen Rubel oder knapp 140 Milliarden Franken, von denen nach Schätzungen 41 Milliarden Franken die Logistik der Kämpfe schluckt. Weitere 41 Milliarden Franken gehen an die Soldaten und ihre Familien und gut 56 Milliarden in die Rüstungsindustrie. Über zwei Drittel der Ausgaben stellen also Investitions- und Konsumvolumina für die eigene Wirtschaft dar. Viele Experten betrachten deshalb schon weniger die Belastungen der «Spezialkriegsoperation» als ökonomische Gefahr für Russland, sondern vielmehr deren Ende.

Wie auch in der Ukraine arbeiten in Russland alle Wirtschaftsbranchen weiter – Handel, Landwirtschaft, Dienstleistungen inklusive Tourismus –, doch zum grossen Teil mit Null- oder Minuswachstum. Die Nachfrage lahmt. Nicht nur Awtowas, der grösste Autohersteller, lässt kurzarbeiten, auch die berühmte Rüstungsfabrik Uralwagonsawod will bis Februar 10 Prozent ihrer Mitarbeiter entlassen. Die Stahlproduktion schrumpft, die Kohlebranche erwartet zum Jahresende Gesamtschulden von knapp 16 Milliarden Franken, der staatliche Eisenbahnkonzern RZD steht schon jetzt mit umgerechnet knapp 41 Milliarden Franken in der Kreide.

Dennoch gleichen Militärsold und Rüstungsaufträge, die in die Wirtschaft zurückfliessen, einen Gutteil dieser Entwicklung aus. Putin kann erst einmal weitermachen wie bisher.

3. Der Rubel rollt

Die Notenpresse, deren Einsatz Inosemzew erst in Zukunft sieht, arbeitet nach Angaben der «Moscow Times» bereits. Dieses Jahr hat die Zentralbank bisher Staatsanleihen für 4,41 Billionen Rubel herausgegeben, also für knapp 46 Milliarden Franken. Schon verweisen manche Experten auf den plötzlichen Kollaps des Zarenreiches nach drei Jahren Weltkrieg 1917, andere fürchten schlimmstenfalls ein paar magere Schlechte-Laune-Jahre.

Alexandra Prokopenko vom Berliner Carnegie-Zentrum glaubt, Putin reiche das Geld noch 12 bis 14 Monate, um seinen kriegerischen Aufwand und zugleich den Wohlstand seiner Konsumenten aufrechtzuerhalten. Dann müsse er sich für eines von beidem entscheiden. Die Exilpolitologin Maria Snegowaja aber hält den «ewigen Krieg» für wahrscheinlich.

Offiziell lag die Inflation im Oktober bei 7,7 Prozent, aber die Benzinpreise sollen laut prawda.ru dieses Jahr um 15 Prozent zulegen, Nebenkosten wie Strom, Gas und Wasser um knapp 12 Prozent.

4. Sanktionen werden umgangen

Der Zermürbungskrieg in der Ukraine hat seine Kehrseiten. Weitreichende Drohnen der Ukrainer schlagen regelmässig in russischen Raffinerien und Ölterminals ein. Das wirkt sich auf den Export wie auf die Versorgung im eigenen Land aus. Dazu kommen nun Trumps Strafzolldrohungen an China und die Inder für den Kauf von russischem Öl und Gas. Beides drückte laut Reuters Russlands Öl- und Gasexporteinnahmen diesen Monat um 35 Prozent gegenüber dem November des Vorjahres. Und doch lassen sich Sanktionen umgehen, wie Russland seit Beginn der «Spezialkriegsoperation» in der Ukraine bewiesen hat.

Experten gehen davon aus, dass indische und chinesische Importeure und ihre russischen Geschäftspartner innerhalb der nächsten Monate neue Wege gefunden haben werden, um über dritte Parteien Käufe abzuwickeln. Damit würden sie von den Sanktionen der USA nicht mehr getroffen werden. Russlands «Schattenflotte» nicht deklarierter Tankschiffe fährt weiter auf den Meeren.

Folgenreicher bei den Sanktionen ist allerdings der Wegfall westlicher Hightech-Lieferanten. Er bedroht inzwischen auch die russische Öl- und Gasproduktion, weil neue, reiche Vorkommen im Polarmeer mangels westlicher Technologie nicht erschlossen werden können. Ein erheblicher Teil der derzeit ausgebeuteten Ölfelder droht wiederum zu versiegen.

So sanken in Chanty-Mansijsk in Nordwestsibirien, einem der Zentren der Ölindustrie, die Förderzahlen von 236 Millionen Tonnen 2019 auf 205 Millionen 2024 laut dem Portal oilresource.ru. In Samotlor, einem der grössten Ölfelder der Welt, das einmal 7 Milliarden Tonnen barg, bleiben zum grössten Teil nur noch mit hohem technologischem und finanziellem Aufwand zu fördernde Reserven.

Trumps Emissär Witkoff setzt an genau diesem Punkt an: Er versucht Putin für ein Kriegsende zu gewinnen, indem er mit neuen amerikanischen Joint Ventures bei der Öl- und Gasförderung lockt.

5. Eliten müssen den Kopf einziehen

Russlands Wirtschaftselite hat sich mit dem Krieg arrangiert. Von ihr droht Putin keine Gefahr. Kritik am Kurs der Wirtschaft, an den hohen Leitzinsen und an den fehlenden Investitionen aus dem Westen wird allenfalls verhüllt geäussert. So meldete sich der Grossindustrielle Oleg Deripaska auf Telegram mit einer seltenen Beschwerde zu Wort: «Dieses Pferdchen (die russische Wirtschaft) ist schon ziemlich lahm geritten. Es hat keinen Zweck, ihm die Sporen zu geben. Es braucht Investitionen, worauf der Präsident ja hingewiesen hat. Ihr Anteil muss etwa nicht weniger als 35 bis 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen. Aber davon ist leider nichts zu sehen. Träume, nur Träume.»

Die Generalstaatsanwaltschaft enteignet inzwischen sehr eifrig Grossunternehmer. Wer seine Aktiva behalten will, zieht den Kopf ein.

Allein zwischen Februar 2022 und August 2024 gab es laut «Forbes» 82 Enteignungsverfahren. Neben ausländischen Firmen war etwa Rolf, der grösste Autodealer Russlands, betroffen. Dessen Gründer und Inhaber Sergei Petrow galt als Liberaler und ist emigriert. Ebenso mussten die beiden früheren Parlamentarier Michail Jurewitsch und Wadim Beloussow ihr Unternehmen Makfa, Russlands grössten Pastaproduzenten, an den Staat abgeben. Auch Juschuralsoloto, einer der grössten Goldförderer Russlands, der Konstantin Strukow gehörte, wurde nationalisiert.

6. Geld statt Patriotismus

Nur die Hälfte der auf dem Papier stehenden 1,5 Millionen Soldaten Russlands, nur ein Bruchteil der 7 bis 8 Millionen wehrfähigen Männer, kämpft in der Ukraine. Um Iwan Normalverbraucher nicht zu beunruhigen, wirbt man um fürstlich entlohnte Freiwillige: Der Staat zahlte je nach Region 1,2 bis 4,3 Millionen Rubel (gut 12 300 bis knapp 44 300 Franken) Handgeld, 210 000 bis 400 000 Rubel (knapp 2200 bis gut 4100 Franken) Monatslohn und 1 bis 5 Millionen Rubel (gut 10 000 bis 51 000 Franken) für einen Heldentod. Für Russen aus der Provinz mit einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 200 oder 300 Franken ein Lotteriegewinn – postum.

Mehrere Regionen kürzten im Sommer das Handgeld erheblich. Es ändert nichts an der militärischen Übermacht Russlands gegenüber der Ukraine. Russland hat seit Kriegsbeginn mehr Soldaten und mehr Feuerkraft. Und die Produktionszahlen russischer Raketen, die die gesamte Ukraine treffen können, wachsen wie die der Kampfdrohnen.

Dass die russische Armee nach 45 Monaten Kampf gerade die Hälfte der 40 Kilometer von den eigenen Linien bis zur Donbass-Stadt Kramatorsk bewältigt hat, ficht Putin nicht an. In der Bevölkerung sagen die meisten lieber gar nichts zur «Spezialkriegsoperation».

Doch unter Russen kursiert ein alter Sowjetwitz: «Napoleon liest die Zeitung ‹Prawda› und ruft: ‹Hätte ich so eine Propaganda gehabt, niemand hätte erfahren, dass ich die Schlacht von Waterloo verloren habe.›»

Mitarbeit: Markus Bernath

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»