Am Samstagabend – die Partie zwischen dem 1. FC Union und dem 1. FC Heidenheim war seit gut einer Stunde vorbei – stand vor dem Stadion An der Alten Försterei ein Leierkastenmann vor einer mobilen Schänke, die sich „Durstlöschwagen“ nennt. Normalerweise leiert der Mann Union-Weisen aus seinem Kasten. Nun hatte er sein Repertoire geändert, zur Gaudi von Menschen mit bunten Zipfelmützen, die sich für Bewegtbild-Selfies um den Mann herum postierten.

Das Lied, das der Leierkastenmann spielte, Sankt Martin, war leicht anachronistisch: Der liturgische Kalender hat für besagten Heiligen den 11. November reserviert. Andererseits: Es passte. Denn Heidenheim galt vor der Partie nicht als alter Mann, über den sich, wie im Lied, sagen ließ: „Hatt’ Kleider nicht, hatt’ Lumpen an“. Nach der Partie sah alles anders aus. Denn Union hatte nicht nur den halben, sondern gleich den ganzen Mantel verschenkt. Und in den letzten vier Minuten der Partie einen greifbaren Sieg hergegeben und mit 1:2 verloren, und das war, aus Heidenheimer Sicht, ein Sieg gegen den Frost, den man in den unteren Tabellenregionen spürt.

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Sieben Spiele ohne Sieg hatten die Heidenheimer vor der Visite in Berlin aneinandergereiht, seit Beginn der Saison haben sie nur fünf Punkte geholt, keinen davon auf auswärtigem Boden. Nun also: die Zähler 6, 7 und 8, damit den FC St. Pauli überholt und den letzten Platz verlassen. Was ihnen das bedeutete, ließ sich am besten aus den Worten von Heidenheims Trainer Frank Schmidt, 51, heraushören, die später Unions Torschütze Rani Khedira (44.) publik machte: „Wir haben das heute gebraucht“, habe Schmidt geseufzt. Unions Trainer Steffen Baumgart leugnete allerdings jede altruistische Absicht: „Unser Ziel war’s nicht, Heidenheim in die Saison zurückzuholen“, versicherte der Coach. Doch wer weiß: Die Heidenheimer haben unter Umständen wirklich eine Brücke gefunden, die ihnen den Weg aus der Krise zurück in die Saison bahnt.

Die Möglichkeit muss weniger wegen des Sieges an sich in Betracht gezogen werden, oder gar wegen der (dürftigen) Qualität des Spiels; sondern wegen der Art und Weise des späten Triumphs. Die Heidenheimer vermochten es in der Halbzeitpause, die defensiven Unzulänglichkeiten zu vergessen, die zu Khediras Führungstreffer geführt hatten.

Heidenheims Treffer fallen in Berlin spät, sehr spät

„Reden hilft“, sagte Heidenheims Trainer Schmidt, und meinte damit, dass er die Mannschaft vor dem Spiel so ausgiebig auf etwaige Rückschläge vorbereitet hatte, dass sich in der Pause viele Worte erübrigten. Seine Mannschaft begann, den Unionern „den Schneid abzukaufen“, wie Baumgart eingestand. Über das Resultat frohlockte wiederum Schmidt in derben Worten: „Am Ende kackt die Ente“, mit der Betonung auf Ende.

In der Tat: Heidenheim drehte die Partie durch einen Doppelschlag, der später nicht hätte gesetzt werden können. Stefan Schimmer glich in der 90. Minute aus, in den letzten Sekunden der Nachspielzeit erzielte Jan Schöppner den 2:1-Endstand. Sekunden nach dem Treffer – die Heidenheimer waren noch damit beschäftigt, das Tor zu bejubeln – pfiff der Schiedsrichter die Partie ab. Heidenheims Vorstandschef Holger Sanwald, der vor der Partie erklärt hatte, mit Schmidt im Zweifelsfall auch in die zweite Liga zu gehen, zeigte sich „unheimlich erleichtert“. Baumgart hingegen schaute fassungslos.

Nach dem Spiel sagte der Union-Coach, er habe in der zweiten Halbzeit bei seiner Mannschaft nicht den defensiven, sondern den offensiven Fokus vermisst. Ob die Mannschaft verstand, dass ihm an diesem offensiven Fokus gelegen war, als er durch Auswechslungen aus drei Angreifern zwei machte, darf als fraglich angesehen werden. Überhaupt war das Resultat der Wechsel bedenklich: Beim Ausgleich hatten in Andras Schäfer und vor allem Tom Rothe zwei Einwechselspieler so fahrig agiert, dass man meinen musste, sie hätten in der Nacht zum Samstag Janik Haberer im Kreißsaal beigestanden. Haberer war um 3.09 Uhr Vater geworden.

Dass er die Geburt gut überstanden hatte, konnte man daran ablesen, dass er ebenfalls eingewechselt wurde; dieser Umstand wiederum ließ den Rückschluss zu: Auch Mutter und Kind sind wohlauf. Andererseits: Womöglich waren die Unioner am Ende auch weniger mit den Heidenheimern beschäftigt. Sondern mit dem FC Bayern, dem die Köpenicker vor wenigen Wochen ein Remis abtrotzten – und der am Mittwoch (20.45 Uhr, Liveticker SZ.de) im Achtelfinale des DFB-Pokals wieder in Berlin antritt.