Die Grünen fordern auf ihrem Bundesparteitag die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine und werfen dem Kanzler schwere Fehler angesichts der russischen Bedrohung vor. Wie kommt der Vorstoß im Bundestag an – und welche Folgen hat der Korruptionsskandal in Selenskyjs Umfeld?
Die Grünen fordern den Taurus für die Ukraine: Die Partei sprach sich auf ihrem Bundesparteitag für die Lieferung der Marschflugkörper an das von Russland angegriffene Land aus. „Die Durchhaltefähigkeit der Ukraine hängt nicht zuletzt von unserer Unterstützung ab“, heißt es in dem Sonntagnacht in Hannover verabschiedeten Leitantrag. Zudem kritisieren die Grünen Kanzler Friedrich Merz (CDU): Dieser habe als Oppositionspolitiker Taurus-Lieferungen gefordert, aber „heute versteckt er sich hinter Worthülsen, während die Zeit gegen die Ukraine arbeitet“. Deutschland sollte „alle nötigen Systeme liefern, die wir liefern können – auch Marschflugkörper“.
Merz sprach kürzlich anlässlich eines Treffens mit Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson in Berlin davon, dass Deutschland mit der Ukraine intensiv an „Long-range fire“-Projekten – also Waffen mit großer Reichweite – arbeite, führte dies aber nicht aus. Der Kanzler hatte Taurus-Lieferungen in der Vergangenheit nicht ausgeschlossen, allerdings auch betont, dass es sich um ein mit Blick auf die Soldaten-Ausbildung kompliziertes Waffensystem handele.
Während die russischen Invasoren ihren Angriffskrieg auf die Ukraine fortsetzen, wird letztere von einem Korruptionsskandal im Energiesektor erschüttert: Am Freitag trat deshalb der Stabschef von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Andrij Jermak, zurück. Er gilt den Ermittlern als Verdächtiger bei den Vorgängen. Jermak war Chefverhandler der Ukraine bei Gesprächen mit der US-Regierung über eine Friedenslösung; der nächsten ukrainischen Delegation in den USA wird er nicht mehr angehören. Der Skandal wirft aus deutscher Sicht die Frage auf, ob Hilfsgelder an die Ukraine für ihre Landesverteidigung auch an den richtigen Stellen landen.
Wie positionieren sich die Bundestagsfraktionen zu der Grünen-Forderung nach Taurus-Lieferungen? Und welche Konsequenzen erklären sie infolge des Korruptionsskandals für nötig?
„Wir brauchen keine Kaliber-Diskussionen, wie sie die Grünen führen. Was wir wann an die Ukraine liefern, sollte hinter verschlossenen Türen bleiben, denn diese Fakten sind strategisches Wissen, das wir Putin nicht auf dem Silbertablett servieren sollten“, sagt Jürgen Hardt (CDU), außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, WELT. „Wir brauchen eine leistungsfähige ukrainische Rüstungsindustrie, damit sich das Land aus eigener Kraft verteidigen kann. Hierzu müssen wir jegliche Unterstützung liefern.“
Mit Blick auf den Korruptionsskandal sagt Hardt, er habe den Eindruck, dass die Behörden in Kiew die „zentrale Herausforderung“ der Korruption annähmen: „Anders lässt sich nicht erklären, dass die ukrainische Antikorruptionsbehörde im engsten Umfeld von Präsident Selenskyj ermittelt. Das sollten wir als positives Signal betrachten. Im Zuge von Beitrittsgesprächen zur Europäischen Union werden diese Anstrengungen noch zunehmen müssen.“
SPD-Vizefraktionschefin Siemtje Möller spricht sich beim Thema Taurus für die von Merz praktizierte Linie rhetorischer Zurückhaltung aus: „Ich unterstütze die Bundesregierung darin, nicht mehr detailliert über alle Waffenlieferungen zu informieren. Darüber hinaus ist zur Lieferung des Taurus aus Perspektive der SPD-Bundestagsfraktion alles gesagt: Die Entscheidung darüber bleibt eine Aufgabe der Exekutive.“
Den Korruptionsskandal nennt Möller „erschütternd“, denn: „Mittel, die eigentlich dem Schutz und dem Wiederaufbau der von Russland zerstörten Energieinfrastruktur dienen sollten, sollen in größerem Umfang veruntreut worden sein.“ Zugleich betont die Sozialdemokratin mit Bezug auf die laufenden Ermittlungen, dass die Ukraine „über leistungsfähige, unabhängige Institutionen und eine starke Zivilgesellschaft verfügt, die Korruption aus eigener Kraft aufdecken und politische Kontrolle einfordern“.
Die stellvertretende Grünen-Fraktionschefin Agnieszka Brugger betont gegenüber WELT: „Die Forderung nach der Taurus-Lieferung macht sich niemand einfach, und als Grüne wägen wir die Risiken des Handelns immer sorgfältig gegen die Gefahren des Nichthandelns.“ Anders als Merz hätten die Grünen ihre Position begründet geändert: „Eine zu geringe Unterstützung der Ukraine mit allem, was militärisch, zivil und diplomatisch bei ihrem Kampf gegen Putins brutalen Krieg erforderlich ist, erhöht doch erst recht die Eskalationsdynamik und die Kriegsgefahr über die Ukraine hinaus.“ Dann wisse Russlands Präsident, „dass er erfolgreich seinen skrupellosen Kurs fortsetzen kann, und er wird dann immer noch einen Schritt weitergehen“. Brugger erhebt den Vorwurf, dass „Kanzler Merz nach seinen markigen Worten in dieser Frage den neuen Olaf Scholz spielt“. Der SPD-Politiker hatte als Regierungschef Taurus-Lieferungen abgelehnt.
Brugger attestiert Merz, die Ukraine „richtigerweise“ bei der „Entwicklung von Waffen mit größerer Reichweite“ zu unterstützen und den militärischen Bedarf dafür anzuerkennen. „Damit entlarvt sich zugleich die These der schlimmen Eskalationsdynamik der Taurus-Gegner komplett. Für den Kriegsverbrecher im Kreml mit seiner Brutalität macht es wohl kaum einen Unterschied, ob mit deutscher Unterstützung ukrainische Kapazitäten aufgebaut werden oder wir direkt liefern.“
Zudem nutze Merz auch jetzt nicht alle Möglichkeiten, um dafür zu sorgen, „dass die ukrainischen Produktionskapazitäten bei Luftverteidigung und Drohnen voll ausgelastet sind“, kritisiert Brugger. „Das ist, ähnlich wie die Weigerung, Taurus zu liefern, ein schwerer Fehler bei der Unterstützung der Ukraine, aber auch mit Blick auf unsere eigene Sicherheit.“
Bezüglich des Korruptionsskandals warnt die Grünen-Politikerin, die Ukraine-Hilfe einzustellen – dann ließe man „die unschuldigen Menschen doppelt im Stich bei der Verteidigung gegen Putins Kriegsterror wie bei ihrem mutigen und immer wieder erfolgreichen Kampf gegen Korruption“. Dass solche Fälle bekannt würden und Folgen hätten, „ist ja genau der Beweis für die außerordentliche Leistung der Menschen in der Ukraine, die im Krieg auch noch Korruption offensiv angehen“. Viele andere Länder schafften das nicht in Friedenszeiten. „Auch deshalb gehört die Ukraine in die EU, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind.“ Die EU müsse gleichwohl im Rahmen des Beitrittsprozesses „maximalen Druck“ bei der Korruptionsbekämpfung machen.
AfD will „Budget-Hilfen“ für Ukraine einstellen
Seine Partei lehne Taurus-Lieferungen ab, sagt AfD-Fraktionsvize Markus Frohnmaier. „Und es ist entlarvend, dass Merz hier nach der Bundestagswahl still und heimlich auf die AfD-Position umgeschwenkt ist.“
Zum Korruptionsskandal sagt Frohnmaier: „Wie wir aus der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern wissen, befördert die bedingungslose Zahlung von Hilfsgeldern Korruption, statt sie zu reduzieren.“ Ein Rücktritt Selenskyjs, „der jedenfalls die massive Korruption um ihn herum toleriert hat“, wäre ein „glaubwürdiges Signal“ der Bekämpfung solcher Missstände. „So lange sollte es generell keine Hilfszahlungen an die Ukraine geben, insbesondere keine Budget-Hilfen, bei denen deutsches Geld einfach in den korrupten Strukturen des ukrainischen Staates versinkt“, fordert Frohnmaier. „Deutsche Hilfsleistungen sollten sich strikt auf direkt ankommende, humanitäre Hilfe für die unter dem Krieg leidende Zivilbevölkerung beschränken.“
Ulrich Thoden, verteidigungspolitischer Sprecher der Linke-Fraktion, bekräftigt die bisherige Taurus-Linie: „Die Linke hat die Lieferung von weitreichenden Marschflugkörpern wie Taurus für die Ukraine stets abgelehnt und hält daran aus guten Gründen fest.“ Mit solchen Waffensystemen würde der Krieg „massiv eskaliert, ohne dass sich das militärische Blatt zugunsten der Ukraine wenden ließe. Eine solche Lieferung könnte zudem die aktuellen, intensiven Bemühungen der internationalen Konfliktdiplomatie, einen Friedensplan für die Ukraine auszuarbeiten, gefährden oder gar beenden.“
Thoden fordert eine „lückenlose“ Aufklärung der Korruption in der Ukraine und betont: „Die humanitäre Hilfe für die Ukraine darf Deutschland deshalb aber nicht kürzen oder einstellen. Sie ist für die Menschen überlebenswichtig, die unter dem alltäglichen Drohnen- und Bombenterror Putins leiden.“ Der Linke-Politiker regt an: „Allerdings könnte die Bundesregierung ihre Wiederaufbauhilfen für kriegszerstörte Infrastrukturen, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden, stärker mit Anreizen zur Durchführung von Antikorruptionsmaßnahmen in den Empfängerländern versehen.“
Nicht nur in der Ukraine müsse „besser sichergestellt sein, dass die Entwicklungsausgaben für andere Länder tatsächlich den Menschen vor Ort zugutekommen und sich korrupte Eliten nicht in die eigene Tasche wirtschaften“, sagt der Linke-Politiker. „Die Gelder, die in Korruptionssümpfen versinken, schwächen die gesellschaftliche Akzeptanz für die Entwicklungszusammenarbeit in der Bevölkerung und ihre langfristigen Finanzierungsperspektiven.“
Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur Politik Deutschland.