Wiesbaden – Es ist ein Brandbrief von 1100 Lehrern, der sprachlos macht – und das Bildungs-Desaster in Deutschland offenbart. Die Pädagogen schlagen Alarm, weil immer mehr Grundschüler nicht mal einen Stift halten oder sich die Schuhe binden können. Von massiven Sprach- und Konzentrationsproblemen ganz zu schweigen!

„Kindern fehlen zunehmend Voraussetzungen, um erfolgreich am Anfangsunterricht in der Schule teilnehmen zu können“, heißt es in einer Resolution von Lehrern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hessen. Am Mittwoch um 11 Uhr wurde der Alarmbrief im Hessischen Kultusministerium übergeben, verbunden mit der Forderung nach mehr qualifizierten Lehrern, mehr Psychologen und Klassen mit maximal 20 Kindern in Grundschulen.

„Die Kinder tragen keine Schuld“

Initiatorin Heike Ackermann (60) zu BILD: „Die Schüler wurden von der Politik allein gelassen und wir Lehrer auch.“ Die stellvertretende GEW-Vorsitzende und Grundschullehrerin fügt hinzu: „Wir als Gesellschaft sind aber mitverantwortlich dafür, dass es so weit gekommen ist. Die Kinder tragen keine Schuld.“

Heike Ackermann (60) ist Grundschullehrerin und stellvertretende GEW-Vorsitzende in Hessen

Heike Ackermann (60) ist Grundschullehrerin und stellvertretende GEW-Vorsitzende in Hessen

Foto: GEW Hessen

Der „selbstständige Toilettengang“ ist ein Problem

Auf fünf Seiten ist das Bildungs-Desaster aufgelistet. Immer mehr Kindern fehlen unter anderem „Anstrengungsbereitschaft und Konzentration, Frustrationstoleranz und die Fähigkeit, sich fair zu streiten und zu versöhnen“. Sie könnten nicht zuhören, mitdenken und nachfragen, Stifte nicht mehr richtig halten, nicht „schneiden, kleben, länger (aufrecht) sitzen, Schuhe binden“.

Als weitere Defizite sind angegeben: „Ordnung halten, Regeln anerkennen und einhalten, selbstständiger Toilettengang“. Das bedeutet: Manche Kinder sind nicht gewohnt, Klopapier zu nutzen und sich selbst wieder anzuziehen. „Das berichten leider Kollegen“, so die GEW-Vize.

Auf Seite 2 der Resolution ist aufgelistet, was viele Kinder nicht mehr können

Auf Seite 2 der Resolution ist aufgelistet, was viele Kinder nicht mehr können

Foto: GEW Hessen

Lehrer fordern mehr Psychologen

Die Gewerkschaft fordert deutlich mehr Sozialpädagogen und Psychologen. Begründung: Die Grundschulen müssten alle Probleme unserer Gesellschaft auffangen – von Migration bis zu Kriegsfolgen. Heike Ackermann: „Wenn ein Schüler aus der Ukraine beim Geräusch eines Flugzeugs unter den Tisch kriecht und schreit, kann ich das nicht auffangen.“

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Dazu kommen große Lern-Defizite, auch in Mathe. „Wenn mich Eltern fragen, wie sie beim Einmaleins-Lernen helfen können, sage ich: ,Spielen Sie doch Monopoly oder Mensch-ärgere-Dich-nicht‘“, erklärt die erfahrene Lehrerin. Immer mehr Eltern würden sich aber kaum noch mit den Kindern beschäftigen, sondern mehr mit ihrem Handy.

Mittwoch, 11 Uhr, übergaben die Initiatoren den Brandbrief an Michael Ashelm, Sprecher im Hessischen Kultusministerium (links): Dabei waren u. a. der hessische GEW-Vorsitzende Thilo Hartmann, Stellvertreterin Heike Ackermann und Grundschullehrerin Felicitas Hemel (mit der gelben Unterschriften-Mappe)

Mittwoch, 11 Uhr, übergaben die Initiatoren den Brandbrief an Michael Ashelm, Sprecher im Hessischen Kultusministerium (links): Dabei waren u. a. der hessische GEW-Vorsitzende Thilo Hartmann, Stellvertreterin Heike Ackermann und Grundschullehrerin Felicitas Hemel (mit der gelben Unterschriften-Mappe)

Foto: GEW Hessen