Anfang der Woche hatte Andrij Jermak noch die ukrainische Delegation bei den Genfer Verhandlungen zur Beendigung des russischen Angriffskriegs geleitet. Am Freitag wurde er vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj per Dekret als Chef des Präsidialamtes entlassen.

Zuvor hatten das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU) und die Spezialisierte Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft (SAP) Jermaks Wohnung in Kyjiw durchsucht. Offizielle Meldungen über die Hintergründe des Einsatzes gab es keine. Oppositionspolitiker hatten Jermak jedoch mit dem „Fall Minditsch“ in Verbindung gebracht, in dem das NABU gegen hochrangige Beamte wegen Korruption im Energiesektor ermittelt.

„Büroleiter Andrij Jermak hat seinen Rücktritt eingereicht. Ich bin Andrij dankbar, dass er die ukrainische Position bei Verhandlungen stets so vertreten hat, wie es sein soll. Es war immer eine patriotische Position“, sagte Selenskyj in einer Videoansprache am Freitagabend. Am Samstag ernannte er den Chef des ukrainischen Sicherheitsrats, Rustem Umerow, zum neuen Delegationsleiter.

Wo Selenskyj und Jermak zusammenkamen

Andrij Jermak ist studierter Völkerrechtler. Nach seinem Diplom 1995 am Institut für Internationale Beziehungen in Kyjiw hatte er zunächst als Jurist gearbeitet und wechselte später in die Filmbranche, wo er das Unternehmen Garnet International Media Group gründete. Vermutlich trafen Jermak und Selenskyj bereits damals aufeinander. Denn auch Selenskyjs Firma „Kwartal 95“ produzierte damals Filme und Fernsehserien.

Seit Anfang der 2000er Jahre ist Jermak politisch aktiv. Von 2006 bis 2014 war er ehrenamtlicher Mitarbeiter von Elbrus Tadejew, einem Abgeordneten der einstigen prorussischen „Partei der Regionen“. Im Jahr 2019 stieg er als Berater des damals neu gewählten Präsidenten Selenskyj in die große Politik ein.

Wie Jermak seine Machtposition ausweitete

Als Präsidentenberater verlagerte sich Jermaks Verantwortungsbereich auf die ukrainische Außenpolitik. Er beteiligte sich an den Bemühungen zur Wiederaufnahme der Verhandlungen im Normandie-Format mit Vertretern aus Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland. Später weiteten sich seine Aufgaben informell auch auf innenpolitische Fragen aus.

Nach Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 rückte Jermak zunehmend in den Vordergrund der Verhandlungen. Er beteiligte sich an nahezu allen Treffen des Friedensprozesses, traf sich mit Vertretern der Partnerländer in Kyjiw und nahm an Auslandsbesuchen teil. Im Februar 2025 war er mit seinem Präsidenten in den USA, als es zu einem Streit im Oval Office zwischen Selenskyj, Präsident Donald Trump und dessen Vize JD Vance kam.

Vorwürfe gegen Jermak als Druckmittel gegen Kyjiw?

Selenskyjs Entscheidung, seinen engen Vertrauten inmitten einer womöglich entscheidenden Phase des Friedensprozesses zu entlassen, werde das ukrainische Verhandlungsteam zwangsläufig schwächen, meint Oleg Saakjan von der ukrainischen „Plattform für Resilienz und Zusammenhalt“. Dem Politikwissenschaftler zufolge war Jermak umfassend in den Verhandlungsprozess eingebunden und hatte Fähigkeiten, die nur schwer zu ersetzen sein werden. 

Andrij Jermak und US-Außenminister Marco Rubio in Genf bei einer Pressekonferenz, im Hintergrund stehen ukrainische und amerikanische FlaggenAndrij Jermak (links) und US-Außenminister Marco Rubio verkünden gemeinsam Fortschritte bei den Genfer GesprächenBild: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

„Das wird definitiv Auswirkungen haben. Jermak verfügt über das nötige Netzwerk, alle Kontakte und das Fachwissen. Er hatte Zugang zur gesamten Exekutive. Niemand sonst kann als Leiter des Verhandlungsteams einfach eine Nachricht an einen Minister oder den Oberbefehlshaber schreiben, um an operative Daten zu gelangen“, sagt Saakjan der DW.

An diesem Wochenende wird weiter verhandelt

In den USA wird die ukrainische Delegation nun unter neuer Führung mit Dan Driscoll, voraussichtlich Trumps neuen Sondergesandten für die Ukraine, über den US-Friedensplan reden. Saakjan sieht in Jermaks Entlassung einen „zwingenden Schritt zum Schutz ukrainischer Positionen“. Der Politikwissenschaftler vermutet, während früherer Verhandlungsrunden könnten Hinweise aufgetaucht sein, wonach Korruptionsvorwürfe gegen Jermak als Druckmittel gegen die Ukraine eingesetzt werden könnten.

„Selenskyj wog das nationale Interesse und seinen persönlichen Vorteil ab und entschied sich für das nationale Interesse. Dies geschah, um sich und die ukrainische Delegation nicht zu schwächen“, meint Saakjan.

Änderung der Atmosphäre bei den Verhandlungen?

Auch Oleksij Haran von der ukrainischen Stiftung „Demokratische Initiativen“ hält die Entlassung Jermaks für einen richtigen Schritt. Das werde die Atmosphäre bei den internationalen Verhandlungen nicht trüben, sondern im Gegenteil verbessern, sagt Haran im DW-Gespräch. Für wirkliche Veränderungen müsse Selenskyj jedoch das Modell der Staatsführung grundlegend überdenken.

Jermaks Abwesenheit in der Delegation werde der Ukraine nicht schaden, gibt sich Haran überzeugt. Die Rolle des Büroleiters sollte nicht überschätzt werden, er sei nicht der wichtigste Diplomat des Landes. „Die Präsenz Jermaks, gegen den viele Zweifel bestanden, schuf eine ungute Atmosphäre bei den Verhandlungen. Er war sowohl in der Ukraine als auch im Westen zunehmend toxisch. Nun wird er nicht mehr Teil der Delegation sein, und das wird zu einem normalen Dialog beitragen. Wir haben genügend qualifizierte Leute, um einen Ersatz zu finden“, betont Haran.

Braucht die Staatsmacht eine Umstrukturierung?

Die Reihe von Korruptionsskandalen seien Ausdruck einer „strategischen Sackgasse“ der ukrainischen Staatsmacht, meint Wolodymyr Horbatsch vom „Ukrainian Institute for Northern Eurasia Transformation“ (INET). Dies könne zu einer emotionalen und politischen Schwächung Selenskyjs führen, insbesondere im Vorfeld wichtiger und schwieriger Verhandlungen.

Andrij Jermak sich an einem Tisch bei Friedensgesprächen mit US-VertreternAndrij Jermak während der Gespräche in Genf am 23. NovemberBild: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Bislang habe die ukrainische Führung ohne klare Strategie für eine Kriegsführung und für Verhandlungen agiert, erläutert Horbatsch im DW-Gespräch. „Unsere Position war reaktiv, nicht proaktiv. Wir waren defensiv und wehrten russische Vorschläge ab.“

Der Politikwissenschaftler ist überzeugt, dass eine tiefgreifende Umstrukturierung der Staatsmacht die Chance für einen Neustart von Verhandlungen bieten könnte. Dies erfordere jedoch mehr als die Entlassung des Präsidialamt-Leiters: einen Wechsel von Regierung und Militärführung sowie Maßnahmen der Spionageabwehr, um die Staatsmacht von Korruption und russischen Agenten zu befreien.

Horbatsch rät Selenskyj, Parlament und Regierung wieder einzubinden und eine Koalition zu bilden. Jermak war vorgeworfen worden, gerade diese Staatsorgane „manuell gesteuert“ zu haben.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk