Seine besten Zeiten hat das „Hotel Magnifico“ schon lange hinter sich gelassen. Das Telefon ist kaputt, die Heizung leckt, die Drehtür klemmt und die Pflanze in der Lobby hat ihr letztes grünes Blatt wohl vor vielen Jahren verloren. Hoteldirektor Don Magnifico lebt von der Substanz, und die besteht neben dem schmucken Innendekor aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem aus Angelina, seiner Stieftochter. Sie hält im adretten Angestellten-Outfit den Laden in Schwung, was mangels Gästen vor allem bedeutet, dass sie ihm und ihren beiden Stiefschwestern permanent zu Diensten steht.

Das Hotel, zu dem in der Mainzer Neuinszenierung von Gioachino Rossinis Aschenputtel-Oper „La Cenerentola“ das nicht weniger heruntergekommene Schloss der Märchenvorlage geworden ist, war in besseren Zeiten der Ort ihrer glücklichen Kindheit. So sieht es jedenfalls Stephanie Kuhlmann, wenn sie ihre von Bernhard Bruchhardt (Bühne und Kostüme) ausgestattete Neuinszenierung mit einer stumm zur Ouvertüre gespielten Erinnerung beginnen lässt. Diese Ouvertüre hatte Rossini, der weit geschickter als sein Don Magnifico mit der Substanz umzugehen wusste, vor der „Cenerentola“-Uraufführung 1817 in Rom seiner um einige Monate älteren Oper „La Gazzetta“ entnommen.

Selbstbewusstes Aschenputtel

Regisseurin Stephanie Kuhlmann, Leiterin des Jungen Theaters Pforzheim und in Mainz zuletzt für Leonard Evers’ Jugendoper „humanoid“ szenisch verantwortlich, erzählt im Großen Haus des Staatstheaters Rossinis „Dramma giocoso“ so klar wie zeitgemäß nach: Alles, auch das Fest beim Prinzen, spielt in den Innenräumen des Hotels, und wie in der Märchenvorlage hinterlässt Angelina ihren Schuh als Erkennungszeichen, aus dem in Rossinis Oper eigentlich ein Armreif geworden war.

Aschenputtel tritt hier von Anfang an ziemlich selbstbewusst auf, und der schüchterne Prinz Don Ramiro fühlt sich beim Rollentausch in der Kleidung seines Dieners Dandini offenbar ganz wohl, zumal er allein Angelinas Augenmerk genießt, während sich der Diener als vermeintlicher Adliger mit dem abgehalfterten Hotelchef und dessen überdrehten Töchtern Clorinda und Tisbe herumschlagen darf. Wer, charakterlich schwach, seinen Vorteil sucht, ist hier zum Stereotyp geworden, und wer auf sein Herz hört, gewinnt am Ende: Cenerentola nicht nur den Prinzen, sondern auch das Hotel zurück, das zum glücklichen Finale von der befreiten Dienerschaft des Herrenchors zur „Casa Angelina“ aufgemöbelt wird. Utopie des Märchens: Ein starker Charakter kann eine ganze Welt verbessern.

Diesen Weg zum glücklichen Finale hat Rossini mit vielen Verzierungen, Koloraturen und brillanten Ensembles gespickt. Sie werden in Mainz, was hervorragend zu Kuhlmanns spielfreudiger Inszenierung passt, von allen sieben Solisten virtuos belebt. Karina Repova mag sich als Angelina gelegentlich in die minimale Privatheit ihres Betts in einem Durchgangsraum zurückziehen: Ihre Cenerentola kennt vokal von Anfang an den maximal großen Auftritt, grundiert von ihrem dunkel eingefärbten Mezzosopran, der in der flexiblen Höhe nie an Grenzen gerät. Zur Entdeckung wird der in Mainz debütierende kolumbianische Tenor Pablo Martínez, der für die Prinzenpartie des Don Ramiro mit seinem sehr hellen Timbre, seiner hohen Leichtigkeit und Beweglichkeit bei völlig mühelosen, natürlichen Phrasierungen eine Idealbesetzung ist. Vincenzo Nizzardo bewahrt seinem Hoteldirektor Magnifico erfreulicherweise die baritonale Noblesse, die seiner Erscheinung von vergangener Eleganz verloren gegangen ist.

Die Partie des Philosophen und Strippenziehers Alidoro hat die Regisseurin aufgewertet, indem sie ihn als Rezeptionisten in die Mitte des Geschehens stellt. Oder, samt Rezeption, wie einen Deus ex machina einschweben und Glitzer werfen lässt. Stephan Bootz beglaubigt diese Aufwertung mit hoher darstellerischer Präsenz, die auch Gabriel Rollinson als Dandini sowie Alexandra Samouilidou und Alexandra Uchlin als böse Schwestern einbringen. Alle Solisten teilen ein großes Gespür für ein hervorragendes Timing, das Kapellmeister Samuel Hogarth mit teils stark beschleunigten Tempi verlangt, so dass sich Rossinis kollektive Plappereien, die mit der Lautstärke sich aufschaukelnden Emotionen, aber auch die Innenschauen der Arien vorzüglich entfalten können. Kein Wunder, dass dieses Märchen für Erwachsene in drei kurzweiligen Stunden in Mainz ein Publikumserfolg ist.

La Cenerentola Mainz, Staatstheater, nächste Vorstellungen am 9. und 19. Dezember sowie am 16. Januar, von 19.30 Uhr an, am 31. Dezember von 18 Uhr an.