
Das „Community Orchester“ probt im Konzerthaus Dortmund. © Oliver Hitzegrad
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Als es vorbei ist, bleiben ein Ohrwurm und das warme Gefühl im Innern, etwas Besonderes erlebt zu haben. In einem Proberaum hinter der Bühne des Konzerthauses haben gerade 20 Menschen, die sich vorher kaum oder gar nicht kannten, gemeinsam ein Stück Musik erschaffen.
Professionelle Musiker sind nicht darunter. Sondern Menschen, die sich in Alter, Aussehen, Herkunft, Lebenssituation und musikalischem Hintergrund sehr stark unterscheiden, hier aber trotzdem zusammenfinden.
Das „Community Orchester“ funktioniert nach dem Prinzip: Alle können mitspielen. Die Frage, die sich unvermeidlich anschließt, lautet: Kann das funktionieren oder endet es im musikalischen Chaos?
Imposanter Bau an der Brückstraße
Das Konzerthaus an der Brückstraße ist im Vergleich zu anderen Klassik-Stätten ein zurückhaltender Bau. Im Kontext der Dortmunder Innenstadt ist das 2002 eröffnete Haus aber dennoch äußerst imposant.
Der Eindruck, den viele haben: Hier passiert die große Kunst. Hochbegabte und gelernte Musikerinnen und Musiker von Weltruf stehen auf der Bühne, hochdekorierte Dirigenten geben den Takt an, prächtig präsentiert zwischen Glasfassade und geschwungenen Stahl-Formen. Das kann einschüchternd wirken.

Community Music geht nah ran
Dabei ist das Konzerthaus so nah dran an den Menschen in Dortmund wie noch nie in seiner Geschichte. Die Britin Mika Haasler leitet die Community Music im Konzerthaus, eine vor sechs Jahren aufgebaute Abteilung mit einem klaren Ziel. „Wir schaffen einen Weg, Musik auf die Straßen, in die Schulen und in die Parks zu bringen. Es geht darum, das Konzerthaus hinaus in die Stadt zu tragen“, sagt Mika Haasler.
Lächelnde Gesichter bei Teilnehmer Michael (r.) und Community Music-Mitarbeiterin Eileen.© Oliver Hitzegrad
Das Konzept ist in England entstanden und dort seit gut 50 Jahren ein Standard in der Kulturlandschaft. In Deutschland entwickelt sich Community Music erst in der jüngeren Vergangenheit zunehmend schneller. Das Konzerthaus Dortmund nimmt eine Vorreiterrolle ein und war in diesem Sommer Gastgeber für eine bundesweite Konferenz zu dem Thema mit über 300 Teilnehmenden.
„Das Gefühl dazuzugehören“
Mika Haasler sagt: „Die Gesellschaft wird immer fragmentierter, immer polarisierter – Community Music hilft, Dinge wieder zu verbinden.“ Das Ziel sei nicht, „dass die Menschen Tickets für Beethovens Fünfte kaufen“, betont sie. „Der Wert des Projekts liegt nicht im Konzertkonsum, sondern in dem, was davor passiert: Begegnung, Selbstvertrauen, Neugier, das Gefühl, irgendwo dazuzugehören.“
Ein Teil der Arbeit findet außerhalb des Hauses statt – in Kitas, Sozialräumen, in der Nordstadt. Aber es gibt eine Reihe von Projekten, bei denen Dortmunderinnen und Dortmunder ganz unabhängig von ihrer musikalischen Erfahrung ins Konzerthaus kommen können. Das „Community Orchester“ ist seit diesem Herbst im Programm.
Hinein also in…, ja in was eigentlich? Für eine „Probe“ müsste es ein festes Repertoire geben. Das ist zumindest zum Start des Treffens nicht der Fall. „Die Musik entsteht hier aus dem Moment und aus der Gruppe, nicht aus einer vorgegebenen Partitur“, sagt Haasler. „Wir konzentrieren uns auf das, was Menschen können – nicht auf das, was sie nicht können.“
Instrumente im Stuhlkreis
Das „Orchester“-Treffen beginnt gemächlich. Nach und nach tröpfeln die Teilnehmer ein, einige wenige kennen sich untereinander von anderen Projekten, die meisten sind einander fremd. Eine Druckkanne mit heißem Wasser für Tee und ein Stuhlkreis geben der Szenerie einen dezenten Gesprächskreis-Charakter. Eine falsche Schlussfolgerung.
Einige der spontan zusammengekommenen Musikerinnen und Musiker beim Üben.© Oliver Hitzegrad
In einer Ecke des Raumes stehen Gitarren, ein Kontrabass, Glockenspiele und mehrere Rhythmusinstrumente. Einige haben eigene Instrumente mitgebracht. Die Kennenlernrunde ist kurz und dynamisch und spart auch denjenigen nicht aus, der hier eigentlich als Beobachter dazugestoßen ist. Die Beobachtung geht also mit einem „Shaker“, einer Rassel, in der Hand weiter.
Vorsichtige Anleitung
Eileen Bornkessel und Isabell Zehaczek aus dem Community Music-Team moderieren die Gruppe. Bewusst zurückhaltend, immer wieder mit Rückfragen. „Ist das OK für euch? Gibt es Gegenvorschläge?“.
Alle fühlen einen Moment lang in die Stille hinein. Dann beginnt Michael am Cajón einen Beat vorzugeben. Ein warmer Gitarrenklang stößt hinzu, vorsichtig in eine bluesartige Linie hineintastend. Ein Basslauf nimmt die Harmonie auf.
Die anderen im Kreis setzen ein. Zuerst zögerlich, später mutiger. Was theoretisch in einem kakophonischen Chaos hätte enden können, beginnt immer mehr nach etwas Gemeinsamem zu klingen.
Völlig unterschiedliche Menschen
Der den Shaker schüttelnde Beobachter sieht Michael, den Trommler, einen Mann mittleren Alters, der mit einem Rollator in den Raum gekommen ist. Einige Plätze weiter sitzt Maria, eine Frau im Rentenalter. Sobald die Musik einsetzt, ist sie sichtbar in ihrem Element. Sie probiert viel aus, achtet auf rhythmische Feinheiten und das groovt ganz gewaltig, was sie da mit einem Klangblock anstellt.
Die Teilnehmer können Instrumente für die Probenabende kostenlos nutzen, aber auch eigene mitbringen.© Oliver Hitzegrad
Die Saiteninstrumente finden derweil immer besser zusammen. Marcel – Typ „Emo“, mit Piercings, Tattoos auf dem Arm, blondiertes Haar unter einer Wollmütze, in der eine selbstgedrehte Zigarette steckt – sitzt hier nach eigener Aussage zum ersten Mal mit anderen zum Musikmachen zusammen. Er hat einen Gitarrenlauf gefunden, auf den die anderen einsteigen.
Wer den Halbkreis entlang schaut, sieht die gleichmäßige Bewegung vieler Arme und Köpfe, sieht wippende Füße und blickt in teils lächelnde, teils konzentriert dreinblickende Gesichter. Eine eigene Schwingung erfüllt den Raum.
Zum ersten Mal am Instrument
Die Gruppe teilt sich jetzt auf, um in zwei Formationen so etwas wie eine Song-Idee zu finden, die beim Winterfest im Dezember im Konzerthaus-Foyer präsentiert werden soll. Pause für den rasselnden Beobachter. Für die anderen eine weitere Gelegenheit, Grenzen zu überwinden.
Eine junge Frau nimmt zum ersten Mal in ihrem Leben einen Kontrabass in die Hand. Michael trommelt nicht mehr nur, sondern streut auch einen Rap-Part ein. „Spontan“, wie er sagt.
„Da sind mir die Tränen gekommen“
Er, der nach eigener Beschreibung „Probleme mit dem Lesen und Schreiben“ hat und etwas langsamer spricht als der Rest, ist hier eine zentrale Figur. „Hier spielt das keine Rolle“, sagt er. Er macht deutlich, wie viel ihm der Kontakt mit der Community Music bedeutet. Als er bei einem Umzug zum „Dia de los Muertos“ im November die Trommel schlagen durfte, „da sind mir die Tränen gekommen“.
Spontane Ohrwurm-Melodie
Die zweite Gruppe entwickelt in 30 Minuten eine eingängige Melodie auf den Akkorden A-Moll und D-Moll. „The Flying Petals“ („Die fliegende Blüten“) haben sie sich für diesen Moment genannt, als sie die Idee vorspielen. Obwohl sie gerade erst entstanden ist, erfüllt diese Tonfolge den Raum, als flögen an einem herrlichen Frühlingstag bunte Blüten umher. Da ist er, der Ohrwurm, der noch Abend beim Zähneputzen im Kopf nachklingt.

Sich mit Fremden auf Musik einzulassen, hat etwas Intimes und bedarf einiges an Überwindung. Maria – diejenige, die am Anfang so gegroovt hat – sagt am Ende des Treffens: „Es ist immer ein bisschen Aufregung da. Aber hinterher findet man sich toll dafür, dass man es gemacht hat.“
„Es macht unglaublich viel Spaß“
„Danke, dass ihr dabei wart“, ruft Isabell zum Abschluss in die Runde. „Danke, dass wir dabei sein durften“, erwidert Peter. Seit zwei Jahren sei er Teil von solchen Projekten, erzählt er. „Ich habe nie gelernt, ein Instrument zu spielen. Aber es macht unglaublich viel Spaß über die Musik miteinander zu kommunizieren.“
Maria nennt schließlich ein so einfaches wie starkes Argument für diese Art der Freizeitgestaltung. „Ich gehe hier immer mit guter Laune und Energie raus“, sagt sie und lächelt dabei. Die Kraft der Musik hat an diesem Abend abermals gewirkt.