Nach dem 28-Punkte-Plan der USA für ein Ende des Ukrainekriegs soll Kyjiw die Regionen Donezk und Luhansk  aufgeben, damit dort eine „entmilitarisierte Zone“ eingerichtet werden kann, die dann wohl faktisch unter russischer Kontrolle stünde.

Nach heftiger Kritik aus Kyjiw und Europa soll dieser Plan nun überarbeitet werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, einige „heikle Themen“ müssten persönlich mit US-Präsident Donald Trump besprochen werden, darunter laut verschiedenen Quellen auch diese Frage. Von der Region Donezk kontrolliert die Ukraine zurzeit rund ein Viertel. Dort leben der regionalen Militärverwaltung zufolge trotz regelmäßigen Beschusses noch rund 200.000 Menschen.

Deutlich mehr Anträge auf Evakuierung

Unter den Bewohnern des Donbass sei allerdings bisher keine allzu lebhafte Diskussion über den „Friedensplan“ zu beobachten, sagt Anastasia Machnyk von der Hotline des Hilfsprojekts „Straße des Lebens“. Gleichwohl hätten in der letzten Woche vermehrt Menschen um eine Evakuierung aus Kramatorsk und Slowjansk gebeten.

Drei Männer tragen eine gehbehinderte Frau aus Kostjantyniwka im November 2025 auf einem Stuhl aus ihrem HausEvakuierung einer gehbehinderten Frau aus Kostjantyniwka im November 2025Bild: Anatolii Stepanov/REUTERS

Melden würden sich meist Familien mit Kindern und Hilfsbedürftige, die bis zuletzt ausharrten, im Glauben, die Lage könnte sich doch noch bessern. Und bisher sei das Leben dort weiterhin relativ ruhig gewesen – zumindest im Vergleich zu anderen Orten, die näher an der Frontlinie liegen, erklärt Machnyk im Gespräch mit der DW: „Aber sie sehen, dass sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen. Vielleicht werden sie auch von den Nachrichten beeinflusst.“

Warum fliehen Menschen gerade jetzt aus dem Donbass?

Den täglichen Gesprächen entnehme sie, dass sich die Menschen nicht vorstellen können, dass die ukrainische Regierung einfach Gebiete aufgibt, in denen noch so viele Menschen leben, erzählt die freiwillige Helferin: „Sie denken, solange noch viele Menschen da sind, wird man sie nicht fallen lassen. Trotzdem ist ein gewisses Misstrauen gegenüber der Staatsmacht zu spüren.“

Ihr Eindruck sei, dass die Bewohner der Region Donezk – im Falle irgendeines Kompromisses – russischen Garantien, die Kämpfe zu beenden, nicht trauen würden. Zu den Gründen für eine Evakuierung, sagt Machnyk, gehörten aber auch ganz gegenwärtige Umstände: Die Front rücke immer näher, der Winter nahe und immer mehr Häuser würden zerstört.

Oleksij K. (Name geändert), Mitbegründer einer Hilfsorganisation zur Evakuierung von Menschen aus der Region Donezk, hat der DW ganz ähnliche Beobachtungen geschildert. Die Menschen in den relativ sicheren Teilen der Region Donezk verließen ihre Heimat aus Angst vor einer russischen Besatzung: „Manche bereiten sich auf eine Abreise vor, weil sie fürchten, man könnte ihnen irgendwann sagen: Ihr habt noch zwei Tage Zeit, und dann fällt das Gebiet an Russland.“

Zerstörte Wohngebäude in KramatorskZerstörte Wohngebäude in KramatorskBild: REUTERS

Für die Menschen in den Frontgebieten der Region Donezk, wie etwa in Kostjantyniwka oder Pokrowsk seien die aktuellen Nachrichten dagegen weniger ausschlaggebend. Diese Menschen, so K. verließen ihre Heimat hauptsächlich wegen zerstörter Häuser sowie fehlender Lebensmittelversorgung und Kommunikationsverbindungen infolge des Beschusses der Infrastruktur: „Diejenigen, die eine russische Besatzung fürchten, haben diese Gebiete längst verlassen“, betont er. „Es bleiben vor allem verzweifelte Menschen, die nicht wissen, wohin, und Rentner, die Plünderungen fürchten. Sie halten bis zuletzt durch, solange ihre Häuser unversehrt sind.“ Mit Politik, behaupten solche Menschen meist von sich selbst, hätten sie nichts zu tun.

Unternehmer: „Umzug statt Expansion“

Zu den noch Verbliebenen zählt Maksym Lysenko. Der Gründer einer Bekleidungsmarke hat sogar noch im Juni dieses Jahres einen Showroom mit Café in Kramatorsk eröffnet. Doch angesichts der Lage in der Region Donezk und der internationalen Entwicklung denkt nun auch er über eine Verlagerung seines Geschäfts nach Kyjiw nach: „Als wir eröffneten, hatten wir etwas Angst, hofften aber, alles werde schon gut gehen.“

Dann sei die Front immer näher gerückt. „Inzwischen denken wir eher an einen Umzug als an eine Expansion“, sagt der Unternehmer. Doch noch sei nichts entschieden. Nach einem starken Einbruch aufgrund der Unterbrechung der Bahnverbindung nach Kramatorsk seien die Umsätze in den letzten zwei Wochen wieder leicht gestiegen. Ihr früheres Niveau hätten sie allerdings noch nicht wieder erreicht.

„Ich halte alles für möglich“

Laut einer Umfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS), die Ende September und Anfang Oktober durchgeführt wurde, lehnen es 71 Prozent der Ukrainer ab, von Kyjiw kontrollierte Gebiete an Russland abzugeben. Im Osten des Landes sind nur 47 Prozent der Befragten dagegen. 24 Prozent würden einen Gebietsverlust um des Friedens willen in Kauf nehmen. 29 Prozent sind noch unentschieden.

Ein Polizist in Tarnanzug schiebt den Koffer einer Frau, die aus ihrem Haus in Kostjantyniwka evakuiert wirdEvakuierung aus KostjantyniwkaBild: Stringer/REUTERS

Lysenko hält den Gedanken, den Donbass an Russland abzutreten, für „absurd und unvorstellbar“. Dennoch schließt er nicht aus, dass es dazu kommen könnte: „Angesichts der Realitäten in der Welt und derjenigen, die in den USA die Macht haben, halte ich alles für möglich. Als 2014 Russland mit dem Beschuss der Ukraine begann, dachte ich, man würde sich die Russen vornehmen, stattdessen wurden wir fertiggemacht“, beklagt der ursprünglich aus Pokrowsk stammende Ukrainer.

Eine Übergabe des gesamten Donbass an Russland, meint Lysenko, würde ohnehin keinen Frieden bringen, sondern Moskau ermöglichen, sich neu aufzustellen, die ukrainischen Befestigungen in der Region Donezk zu umgehen und weiter vorzurücken. Das wäre eine „Niederlage für die ganze Welt“, meint der Unternehmer.

„Wir haben die Hauptstadt Kyjiw, unsere Souveränität und Freiheit gerettet. Aber wir haben wegen der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft viel Territorium verloren“, klagt Lysenko. „Statt allein den Aggressor unter Druck zu setzen, wird der Schwächere unter Druck gesetzt, und die Welt schaut dieser Absurdität tatenlos zu. Sie belohnen den Mörder, nur weil er stärker ist.“

Binnenvertriebene: „Es geht um Menschenleben“

Kateryna Kowal ist aus Druschkiwka, nahe der Front. Heute lebt sie mit ihrer Familie in einer Unterkunft nahe Kyjiw. Auch sie bezeichnet die Überlegung, die ganze Region Donezk an Russland abzugeben, als „völlig absurd“: „Es geht hier nicht um ein leeres Feld, sondern um Menschenleben. Wie könnte man ganze Städte mit den Menschen darin aufgeben?“ Es handle sich schließlich nicht um Russland-Sympathisanten. „Sie halten an ihren Wohnungen fest, weil sie kein Geld für einen Umzug haben und fürchten, auf der Straße zu landen.“ Vor allem die Älteren sähen keine Möglichkeit, sich einen neuen Lebensunterhalt zu verschaffen.

Zerstörungen und ausgebrannte Autos in einer Straße der Stadt Druschkiwka nach einem russischen AngriffZerstörungen in einer Straße der Stadt Druschkiwka nach einem russischen AngriffBild: Diego Herrera Carcedo/Anadolu/picture alliance

Ein solches Szenario käme einer Kapitulation der Ukraine gleich, findet Kowal. Denn auch sie glaubt nicht, dass Russland im Donbass Halt machen würde. Im Gegenteil: Die Bedrohung für die Regionen Charkiw und Dnipropetrowsk würde nur zunehmen. Dennoch schließt sie nicht aus, dass die USA die Ukraine aufgrund ihrer Abhängigkeit von amerikanischer Hilfe zwingen könnten, die Gebiete abzutreten. Doch ein solcher Schritt wäre der Bevölkerung nur sehr schwer zu vermitteln, warnt sie: „Alle Binnenflüchtlinge wollen zurück, selbst wenn ihre Häuser zerstört sind. Es geht nicht nur um die eigenen vier Wände, sondern um das Gefühl, zu Hause zu sein, um die Gräber der Angehörigen … Wenn es dort eine ukrainische Staatsmacht und Frieden gibt, werden auch wir zurückkehren, denn dort ist unsere Heimat.“

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk