80 Jahre nach Kriegsende: Wie Juden nach dem Holocaust in Stuttgart wieder Wurzeln schlugen Die 1952 von Architekt Ernst Guggenheimer entworfene und 1952 eingeweihte neue Synagoge im Hospitalviertel mit ihrem ursprünglichen Eingangsbereich. Sie wurde anstelle des in der Reichspogromnacht zerstörten Vorgängerbaus aus dem 19. Jahrhundert errichtet. Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Trotz vieler Widrigkeiten entstand nach 1945 in Stuttgart wieder eine jüdische Gemeinde. Der Historiker Roland Müller würdigte die Aufbauleistung. Anlass war ein historisches Datum.

Der 1. Dezember markiert nicht nur den Adventsbeginn. Er steht auch für ein düsteres Kapitel der Stuttgarter Stadtgeschichte: Am 1. Dezember 1941 wurden mehr als 1000 Jüdinnen und Juden aus Württemberg und Hohenzollern, die in den Hallen der Reichsgartenschau auf dem Killesberg interniert waren, vom Inneren Nordbahnhof nach Riga deportiert. Weniger als 50 von ihnen überlebten den Holocaust. Der Verein Zeichen der Erinnerung nimmt das jeweils am 1. Dezember zum Anlass, am Gedenkort auf dem Killesberg daran zu erinnern – diesmal beteiligten sich Schüler der Alexander-Fleming-Berufsschule.

An diesem 1. Dezember ging es jedoch ausdrücklich auch ums Thema Weiterleben und um einen Neubeginn. Roland Müller, der frühere Leiter des Stadtarchivs, sprach im voll besetzten Gemeindesaal der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) über den „Neubeginn im Schatten der Schoa“. Etwas, das unmittelbar nach Kriegsende kaum denkbar schien. Der Buchenwald-Überlebende Josef Warscher hatte die Militärregierung als Repräsentant der winzigen Gemeinde 1946 wissen lassen, dass Juden in Deutschland keine Zukunft hätten. Der Blick ging in Richtung Palästina. Die Zahlen, die Roland Müller, dazu nennt, erschrecken jedes Mal aufs Neue: 1933 lebten in Württemberg rund 11 000 Jüdinnen und Juden. Nach Kriegsende waren es noch 64. Weitere 180 Überlebende kehrten aus Lagern zurück. „Wie sollte da eine Zukunft im Land der Mörder, Mitmacher und Mitläufer aussehen?“, fragte Müller rhetorisch – wissend, dass es anders kam.

Die kleine jüdische Community war alles andere als homogen

Warscher selbst, so schildert es der Historiker Müller, zählte mit Alfred Marx, Benno Ostertag und Robert Perlen, Ernst Guggenheimer und Jenny Heymann zu den prägenden Persönlichkeiten der neu entstehenden Stuttgart Gemeinde. Sie trug den Namen Israelitische Kultusvereinigung (IGV) und bestand im Kern aus deutsch-jüdischen Überlebenden. Parallel dazu organisierten sich sogenannte Displaced Persons, bei denen es sich um ehemalige Zwangsarbeiter und jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa handelte, die in Camps untergebracht waren. Zugleich wurden sie mehrheitlich Mitglieder der jüdischen Gemeinde.

Der Historiker Roland Müller beim Vortrag im Gemeindesaal der IRGW Foto: Jan Sellner

Auf seiner Zeitreise durch die unmittelbare Nachkriegszeit bis 1950 arbeitet Roland Müller detailliert heraus: ja, das jüdische Leben fasste in Stuttgart wieder Fuß. 1950 kehrte die Gemeinde auch an den alten Standort in der Hospitalstraße zurück, wo 1952 die neue Synagoge eingeweiht wurde. Die kleine jüdische Community war jedoch alles andere als homogen; sie war mit Grundsatzfragen befasst und mit mannigfachen Problemen konfrontiert. Das begann bei der Verteilung von Lebensmitteln und Wohnraum und mündete in das Thema Rückerstattung und Entschädigung.

Der Neubeginn zeigte: „Hitler hat nicht gesiegt“

Konfliktlinien verliefen auch mit übergeordneten Organisationen, etwa dem „Zentralkomitee der befreiten Juden“ und der internationalen jüdischen Community. Besonders belastend wirkte laut Müller ein nach wie vor grassierender Antisemitismus und die stellenweise Missachtung jüdischen Lebens, die sich etwa darin ausdrückte, dass der Schutt der in der Reichspogromnacht 1938 zerstörten Synagoge in der Hospitalstraße auch zwei Jahre nach Kriegsende noch nicht abgetragen war. Müller kommt zu dem Schluss: „Man kann die Geschichte der Gemeinde zwischen 1945 und 1950 kaum anders denn als Konfliktgeschichte erzählen.“ Umso mehr seien jene Personen zu würdigen, denen es gelungen sei, „im Schatten der Schoa eine neue Gemeinde aufzubauen. Auch um dokumentieren: Hitler hat nicht gesiegt.“