80 Jahre nach Kriegsende: In Essen untersuchen Stadtarchäologen Luftschutzanlagen, die vergessen oder verschüttet waren. Dabei entdecken sie Graffiti, die ersten Fanta-Flaschen der Geschichte und Spuren der Menschen, die darin ums Leben kamen.

Es sah zunächst nach einer normalen Baugrube aus. Dann stieß die Baggerschaufel auf Beton, nun nahmen die Archäologen die Baustelle im Essener Nordviertel in Augenschein. Sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass sie es mit den Resten eines Deckungsgrabens aus dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatten. Es war ein Unterstand, der bei den Luftangriffen der Alliierten Schutz bieten sollte. Solche Deckungsgräben bestanden aus mannshohen Ausschachtungen im Boden, die mit Holzbalken oder Betonplatten abgedeckt waren. Sie waren mehr oder weniger sicher – je nachdem, wie sorgfältig gearbeitet worden war.

Der Graben im Nordviertel war allerdings zur tödlichen Falle geworden. Die Archäologen fanden unter dem Beton einen Gewehrkolben, das Innenfutter eines Stahlhelms, einen Kinderstiefel und Fragmente menschlicher Knochen. Nachforschungen hätten ergeben, „dass hier im Sommer 1943 eine Fliegerbombe eingeschlagen ist, es war ein Volltreffer“, sagt Sebastian Senczek, Archäologe der Stadt Essen. Im Graben befanden sich vermutlich Mitglieder einer Wachmannschaft, Zwangsarbeiter und Schüler einer nahegelegenen Grundschule.

Wenn heute vom Luftschutz im Zweiten Weltkrieg die Rede ist, werden an erster Stelle die Bunker genannt. In Essen gab es rund zwei Dutzend Hochbunker, einige davon sind bis heute im Stadtbild sichtbar. Doch daneben baute man unzählige Keller aus, grub unterirdische Stollen und Deckungsgräben. Wie viele solcher Anlagen man in der Stadt hatte? Johannes Müller-Kissing, Archäologe und Leiter der Essener Denkmalbehörde, zuckt mit den Schultern. „Niemand weiß es genau, wir gehen aber von mehreren Hundert aus.“

Manche wurden vom Reichsarbeitsdienst oder von Zwangsarbeiter-Kolonnen angelegt, andere, sogenannte Selbsthilfestollen, buddelten die Menschen in Eigenregie, die Bergleute der Stadt wussten ja, wie so etwas geht. Doch im Lauf der Jahrzehnte wurde oft vergessen, wo genau diese Stollen und Gräben sich befanden, viele sind verschüttet oder sie wurden beim Wiederaufbau eingeebnet. Doch manche haben sich im Untergrund der Stadt erhalten. Und nach diesen suchen die Essener Archäologen. Für sie ist jeder Graben ein wichtiger Puzzlestein für ein großes gedachtes Bild, für eine Karte, auf der möglichst viele Luftschutzeinrichtungen des Zweiten Weltkriegs eingetragen sein sollen. „Wir wollen das System Luftschutz sichtbar machen“, sagt Müller-Kissing.

Manchmal, wie beim Deckungsgraben im Nordviertel, hilft ihnen der Zufall. Manchmal fahnden sie gezielt danach. Zum Beispiel mit den 3D-Luftbildaufnahmen, den sogenannten Lidar-Scans, die das Land NRW alle paar Jahre veröffentlicht. Darauf entdeckte kürzlich das Team von Müller-Kissing im Essener Süden ein auffälliges, rechteckiges Plateau. Jetzt stehen die Archäologen an genau dieser Stelle in einem kleinen Waldstück und schaufeln die Erde zur Seite.

Nach wenigen Zentimetern kommt Beton ans Licht. „Das ist die Bodenplatte einer Baracke“, sagt Müller-Kissing. Es sei gut zu erkennen, dass dieses Gebäude nicht für die Ewigkeit gedacht war. Die Betonschicht ist nur wenige Zentimeter dick. „Das ist eine typische Baustelleneinrichtung“, erklärt Müller-Kissing. Die Baracke habe als Unterkunft für eine Kolonne von Arbeitern gedient. Ihr Auftrag: Sie mussten hier einen Stollen in den Hang treiben, in dem die Menschen des angrenzenden Wohnviertels bei Luftangriffen Schutz finden sollten. Auch den Zugang zu diesem teilweise verschütteten Stollen finden die Archäologen im Waldboden.

Nur wenige Tage benötigen die Archäologen, bis diese einstige Baustelle vermessen und dokumentiert ist. Eine solche Grabung ist für sie Routine, die Funde sind wenig spektakulär: ein alter Schuh, die Reste eines Spatens, ein Stück eines mit Metall ummantelten Gummischlauchs. „Das ist ein Pressluftschlauch für Bergbauhämmer, die man für den Stollenvortrieb gebraucht hat“, erklärt Müller-Kissing.

Dass die Essener Stadtarchäologie sich nicht nur für Steinzeit, Römer und Mittelalter interessiert – das ist eine Tradition, die auf den früheren Stadtarchäologen Detlef Hopp zurückgeht, der sich vor drei Jahren in den Ruhestand verabschiedete. Er begriff die Besonderheiten der Ruhrgebietsstadt als Chance. So wie man in Köln bei jeder Baustelle auf römische Spuren stößt, so findet man in Essen überall die Zeugnisse der Industriegeschichte. Deren Erforschung widmete sich Hopp seit Ende der 1990er-Jahren verstärkt – und wurde damit zu einem Pionier dieser Disziplin.

Hopps Nachfolger Johannes Müller-Kissing führt diese sogenannte Archäologie der Moderne weiter – nun mit dem Schwerpunkt Weltkriegsbunker und Schutzräume. Schon in seinem Studium habe er sich mit Befestigungsanlagen beschäftigt, erzählt er. Mittlerweile gelten die Essener Stadtarchäologen als Vorreiter der sogenannten Bunker-Archäologie. Eine Forschungsrichtung, die Aufmerksamkeit erregt. „Die Menschen interessieren sich dafür“, sagt Müller-Kissing. Führungen und Vorträge seien stets gut besucht – und zwar nicht von dubiosen Militaria-Fanatikern, sondern von normalen Bürgern, die mehr über das Leben und den Kriegsalltag ihrer Eltern oder Großeltern wissen wollten.

Oft sind es auch die Essener Bürger, die den Experten Hinweise geben. So auch im vergangenen Jahr. Als die städtischen Archäologen in einem Garten unweit der Villa Hügel den Tagesbruch eines alten Bergbaustollens in Augenschein nahmen, kam ein Spaziergänger zu ihnen und erzählte, er habe als Kind in diesem Stollen gespielt – und darin Sachen aus der Kriegszeit gesehen. Daraufhin verschafften sich die Archäologen Zugang.

Und sie waren bass erstaunt: an den Wänden Inschriften, ein auf den 14.7.1944 datierter Namenseintrag – und mehrere Graffiti, die mit schwarzer Teerfarbe gemalt worden waren. Ein lebensgroßer Indianerkopf mit Friedenspfeife und Häuptlingsschmuck ist zu sehen, eine Esel- oder Pferdedarstellung sowie der Schriftzug „Feind hört mit“, die allgegenwärtige Aufforderung der Nazis, vor feindlichen Spionen und Agenten auf der Hut zu sein. Die verrosteten Reste mehrerer Pritschen liegen bis heute auf dem Boden. Außerdem entdeckten die Archäologen zwei Fantaflaschen mit den Jahreszahlangaben 1940 und 1943.

Fantaflaschen im Weltkriegsstollen – ein kurioser Fund, der ein Schlaglicht auf ein kurioses Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte wirft: Als nach Kriegsbeginn die Rohstoffe für die deutsche Coca-Cola-Produktion knapp wurden, entwickelte der Coca-Cola-Chefchemiker Wolfgang Schetelig 1940 in Essen ein Ersatzprodukt, damit die Coca-Cola-Company nicht gänzlich auf das Geschäft in Deutschland verzichten musste.

Den Namen dieses Ur-Essener Getränks, das damals aus Molke, Apfelresten und aus Italien eingeführten Fruchtkonzentraten gemixt wurde, leitete man von dem Wort Fantasie ab: Fanta. Erstaunlich ist der tadellose Zustand der beiden Flaschen, kein Splitter fehlt, kein Kratzer ist zu sehen. Der Stollen hat also seinen Zweck erfüllt, er hielt stand. Und die Archäologen können ihre Bestandsaufnahme abschließen.

Der Deckungsgraben im Essener Nordviertel beschäftigt sie noch immer. Die Knochen übergaben sie dem Ruhr-Museum für eine anthropologische Untersuchung. Ein erstes Ergebnis gibt es bereits: Sie seien drei verschiedenen Individuen zuzuordnen, sagt Müller-Kissing. Zugleich sei davon auszugehen, dass es noch mehr Tote gegeben habe, ergänzt sein Kollege Sebastian Senczek. Jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, versucht man herauszufinden, wer sie waren.