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Seit dem Ende des Assad-Regimes machen sich Syrer weltweit auf die Suche nach Angehörigen. Viele waren in Folter-Kerkern verschwunden. Eine Festplatte mit mehr als 70.000 Fotos könnte nun helfen, Opfer und Täter zu ermitteln.
Von Volkmar Kabisch, Antonius Kempmann, Amir Musawy, Sebastian Pittelkow, Benedikt Strunz, Sulaiman Tadmory, NDR, und Petra Blum, WDR
Die wohl wichtigste Entscheidung in seinem Leben trifft der Oberst in nur wenigen Sekunden. Es ist der Abend, an dem Syriens langjähriger Machthaber Baschar al-Assad flieht. In den Städten brennen an jenen Tagen im Dezember 2024 Polizeiwachen, Geheimdienstzentralen und Gerichtsgebäude.
Viele Beweise für die Gräueltaten des Diktators und seiner Schergen gehen in Flammen auf. Oberst Muhammad (*Name geändert) öffnet den Tresor in seinem Büro der Beweissicherungsabteilung der Militärpolizei von Damaskus. Dann, so erzählt er es im Interview, greift er darin zu einer Festplatte und flieht. Die Festplatte verschwindet mit ihm in seinem Versteck und übersteht den Umsturz. Auch unter den neuen Machthabern bleibt sie unentdeckt, genau wie der Oberst.
Blick in das Büro von Oberst Muhammad auf dem Gelände der syrischen Militärpolizei in Al-Qaboun in Damaskus.
Bilder von mehr als 10.000 ermordeten Syrern
Monate später findet sie den Weg zu Reportern des NDR, die deren Inhalt mit dem WDR, der Süddeutschen Zeitung und dem International Consortium for Investigative Journalists (ICIJ) teilen. Die Festplatte könnte Aufschluss über das Schicksal Tausender verschwundener Syrer bringen. Auf dem Datenträger finden sich mehr als 70.000 Fotos. Sie zeigen Bilder von 10.212 mutmaßlich von syrischen Sicherheitsbehörden ermordeten Syrern.
Es ist eine Festplatte, die deutlich macht, wie grausam und systematisch Baschar al-Assads Regime Tausende zu Tode folterte und wie der Sicherheitsapparat diesen Völkermord am eigenen Volk auch noch akribisch dokumentierte. Und der Inhalt wirft die Frage auf, wie eines der großen Menschenrechtsverbrechen der Gegenwart unter den Augen der internationalen Gemeinschaft geschehen konnte.
An einem Tag im November setzt sich Oberst Muhammad in einem dunklen Raum auf einen Stuhl und erzählt den Reportern, was es mit der Festplatte auf sich hat. Mehrere Monate Verhandlung waren dem Treffen vorausgegangen. Denn der Oberst hat Angst um sein Leben – er fürchtet sich vor den neuen Machthabern in Syrien und auch vor den alten Kadern des Assad-Regimes. Die Gardinen sind blickdicht verschlossen.
Fotos bis zum Fall des Assad-Regimes
Niemand soll das Gesicht des Mannes erkennen können, der dafür gesorgt hat, dass die Welt diese Fotos nun sehen kann. „Es gibt Dinge, die die Menschen wissen müssen“, sagt er. „Es gibt Menschenleben, die ausgelöscht wurden, und Familien müssen wissen, wo ihre Angehörigen sind“, erklärt er seine Motivation. Eigene Schuld weist Oberst Muhammad strikt von sich, obwohl er jahrelang selbst Teil des Regimes und des berüchtigten Sicherheitsapparats war.
Der Datensatz umfasst Aufnahmen von insgesamt 10.212 toten Häftlingen. Fotos, aufgenommen zumeist in den Jahren von Mitte 2015 bis zum Fall des Assad-Regimes Ende 2024. Fast immer sind es mehrere Aufnahmen einzelner toter Körper, vor allem von Männern. Auch Abbildungen von Frauen, Minderjährigen und mindestens einem Baby finden sich darin.
Auf die leblosen Körper hat ein Pathologe Nummern gekritzelt, wohl um sie später zuordnen zu können. Jedes Foto enthält auf einer digitalen Karteikarte Chiffren für die Herkunft der Leiche. In wenigen Fällen finden sich auch Namen auf den Fotos. Die meisten Leichen sind bis heute nicht identifiziert.
In den Kerkern des Regimes verschwunden
Auch Mazen al-Hamada galt lange als vermisst. 2020 war der bekannte Oppositionelle nach Jahren des Exils in Europa nach Syrien zurückgekehrt. Direkt am Flughafen von Damaskus wurde er verhaftet und verschwand in den Kerkern des Regimes. Bis zum Sturz Assads hatte seine Familie keine Ahnung, wo er ist. Dann wird seine Leiche in einem Kühlraum des Militär-Krankenhauses Harasta gefunden.
Im November dieses Jahres versammelt sich die Familie auf einem Friedhof am Stadtrand der syrischen Hauptstadt. Hamadas Bruder Fawzi und Schwester Amel stehen am Grab. Sie haben immerhin einen Ort, den sie zum Trauern aufsuchen können – anders als Tausende andere Familien in Syrien.
Wann der Aktivist genau verstarb, wo er die letzten Jahre genau war und wer ihn getötet hat – all das weiß die Familie lange nicht. Antworten finden sich nun auf der Festplatte von Oberst Muhammad: Mazen al-Hamada trägt die Leichen-Nummer 1174/K. Die Chiffre ist auf die braune Häftlingsuniform geklebt.
Nach Jahren der Folter in den Gefängnissen Assads hätte al-Hamada nur noch wenige Wochen durchhalten müssen. Dann hätte er das Regime überlebt, gegen das er so gekämpft hatte. Laut Metadaten werden die Bilder seiner Leiche am 28. September 2024 aufgenommen – durch einen Fotografen aus der Einheit von Oberst Muhammad – im Keller des berüchtigten Militärkrankenhauses von Harasta.
Drei Viertel aller Toten sind unterernährt
Die Bilder sind stumme Zeugen einer Todesmaschinerie, die jahrzehntelang niemand stoppte. Auf einem repräsentativen Auszug der Fotos, insgesamt von 565 Leichen, den die Reporter erstellt haben, sieht man zu zwei Dritteln nackte oder nur spärlich bekleidete Leichen. Drei Viertel aller Toten sind unterernährt.
Mehr als die Hälfte der Leichen hat erkennbare Verletzungen im Gesicht, am Kopf oder Nacken. Viele haben Verbrennungen, etwa von ausgedrückten Zigarettenstummeln, manche über den ganzen Körper verteilt. Jede fünfte Leiche weist stumpfe Verletzungen wie Prellungen auf. Wieder andere haben Schnitte am Körper.
An den Bildrändern und denen Hunderter weiterer Fotografien von Leichen finden sich markante Hinweise, die zeigen, dass sie im Leichenkeller des Harasta-Krankenhauses aufgenommen wurden. Immer wieder ist eine vierstufige Treppe auf den Bildern zu sehen, bei der untersten Stufe ist eine Ecke herausgeschlagen, und eine Fliese mit markanter Marmorierung. Offenbar ist dies ein zentraler Ort für die Dokumentation der Folteropfer des Regimes.
Auch Oberst Muhammad bestätigt die spezielle Rolle, die Militärkrankenhäuser im Todesapparat des Assad-Regimes spielten. „Laut Anweisungen des Generalkommandos ist das Militärkrankenhaus Harasta spezialisiert auf das Fotografieren von Häftlingen der Geheimdienste. Ausschließlich“, sagt er. Für jeden Toten sei eine Akte in der Militärjustiz angefertigt worden, erinnert er sich.
Viele Akten verbrannt
Wie Recherchen der Reporter im Militärgericht von Damaskus ergeben, wurden offenbar viele der Akten dort verbrannt. Jene, die übrig geblieben sind, versuchen die neuen Machthaber derzeit zu sichten. Die Meta-Daten der Fotos auf der Festplatte des Obersts, die Ordnerbeschriftungen und die Informationen der Fotos selbst könnten nun bei der Suche nach Vermissten hilfreich sein – ebenso wie bei der Strafverfolgung mutmaßlicher Täter.
Anfragen des Rechercheteams zu den Vorwürfen ließen sowohl die jetzige syrische Regierung als auch der ehemalige Präsident Baschar al-Assad unbeantwortet.
Datensatz liegt auch dem Generalbundesanwalt vor
Nach Informationen von NDR, WDR und SZ liegt der Datensatz mittlerweile auch dem Generalbundesanwalt vor. Er ist Teil eines Struktur-Ermittlungsverfahrens zu Syrien, in dem ähnliche Bilder schon einmal eine Rolle gespielt haben.
„Fotos, die uns zu Syrien vorliegen, ergänzen die Zeugenaussagen einzelner Personen. Sie machen besonders anschaulich für jeden sichtbar und damit auch objektivierbar, was einzelne Personen erlitten haben“, sagt Generalbundesanwalt Jens Rommel gegenüber NDR, WDR und SZ. Täter des Assad-Regimes können auch in Deutschland nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden. Die Bundesanwaltschaft will nun den neuen Datensatz kriminologisch auswerten.
Mitarbeit: Hannah El-Hitami, Essam Yehia
„Damascus Dossier“
Grundlage der Recherchen sind Unterlagen aus den syrischen Nachrichtendiensten unter Assad und mehr als 70.000 Fotos, die unter anderem Folter und Mord in syrischen Gefängnissen dokumentieren. Die insgesamt 134.000 Dokumente decken einen Zeitraum von 1994 bis Dezember 2024 ab.
Der NDR hat die Daten mit dem ICIJ und mit internationalen Medienpartnern geteilt. An dem Projekt beteiligt sind neben NDR, WDR und SZ, Daraj Media (Libanon), ARIJ (Syrien), Le Monde (Frankreich), Washington Post (USA), Yle (Finnland), SVT (Schweden), Times of London (Großbritannien), El Pais (Spanien), CBC (Kanada).
Der NDR hat die Namen von mehr als 1.500 Personen, die vom Assad-Regime verhaftet wurden oder in Gefängnissen verstorben sind, mit folgenden Organisationen geteilt: Syrian Network for Human Rights (info@snhr.org), Syrian Center for Legal Studies and Research (info@sl-center.org), Ta´afi (ahmad.helmi@taafi-sy.org) und mit der UN-Organisation Independent Institution on Missing Persons (IIMP) (iimp-syria@un.org).