Das Gesundheitswesen muss digitaler werden. Sie sind 64 Jahre alt, wie steht es um Ihre Digitalkompetenz?

Ich bin da wahrlich kein Fachmann, aber neugierig. Und ich lerne gerne dazu, manchmal auch unfreiwillig. Neulich habe ich einen eigenen Text versehentlich gelöscht, um dann feststellen zu können, dass das Diktat unmittelbar in den Laptop zu ganz brauchbaren Ergebnissen führt. Wenn ich eine persönliche Handschrift will, schreibe oder diktiere ich gerne selbst.

Wie wird Ihre Handschrift beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) aussehen?

Die Hauptaufgabe ist klar: Wie stellen wir die größte humanitäre Hilfsorganisation Deutschlands und einen Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege in einer dramatisch veränderten Weltlage und angesichts knapper öffentlicher Haushalte zukunftsfest auf? Die zu Recht ausgerufene Zeitenwende betrifft nicht nur die militärische Verteidigungsfähigkeit, sondern auch den Bevölkerungsschutz, den wir ja auch bei ­Naturkatastrophen brauchen. Und beim Bevölkerungsschutz sind wir in Deutschland nicht ausreichend vorbereitet. Dies zu ändern, ist eine zentrale Herausforderung. Außerdem wird sich das DRK weiterhin in die Diskussion um die Zukunft unseres Sozialstaats einbringen. Ein leistungsfähiger Sozialstaat stärkt das Gemeinwesen, auch als Wirtschaftsstandort. Zugleich darf die Wirtschaftskraft unseres Landes nicht überfordert werden.

Wie kriegsbereit ist das DRK?

Kriegsbereit ist das falsche Wort. Aber jede Rotkreuz-Gesellschaft ist gleichzeitig freiwillige Hilfsgesellschaft der Behörden im humanitären Bereich, auch im bewaffneten Konflikt. Unsere Entstehung ist nicht zufällig mit der humanitären Hilfe in Kriegen verknüpft. Wir sind bereit, aber auch erforderlich, um den Sanitätsdienst der Bundeswehr im Konfliktfall zu unterstützen. Wir brauchen aber eine noch engere Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften und dem DRK und den anderen anerkannten Hilfsorganisationen. Und so bitter es ist: Wir lernen auch von dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine, wie wichtig etwa die Zusammenarbeit aller Akteure im Zivilschutz ist und welche Unterstützung die Zivilbevölkerung in einem langen Konflikt benötigt.

Wie gut ist unser Bevölkerungsschutz?

Die Infrastruktur und die Ausstattung sind unzureichend. Ein konkretes Beispiel: Schon vor fast zehn Jahren hat die Politik versprochen, zehn mobile „Betreuungsmodule“ bereitzustellen. Diese Einrichtungen können, wie kleine Städte, 5000 Menschen unabhängig und selbständig versorgen. Bisher ist nur ein einziges Modul ausfinanziert. Dabei sind die Kosten von 35 Millionen Euro je Einheit durchaus darstellbar. Es braucht den politischen Willen, das Notwendige zu tun. Wir haben diesen Willen. Daher errichten wir aus eigenen Mitteln in Luckenwalde das modernste Logistikzen­trum für Bevölkerungsschutz Deutschlands. Aber auch der Staat muss liefern.

Was muss konkret passieren?

Kurzfristig braucht es ein Investitionsprogramm: für mobile Einrichtungen und auch für Strukturen in der Fläche. Das DRK benötigt zeitnah Investitionen von rund 2,1 Milliarden Euro. Und danach jährlich eine weitere Milliarde Euro, zum Beispiel zur Stärkung des Bevölkerungsschutzes, der hauptamtlichen Strukturen zur Unterstützung des Ehrenamts und des Rettungsdienstes. Das fiele unter die Ausnahme von der Schuldenbremse für den Bevölkerungsschutz. Klar ist doch: Ein bewaffneter Konflikt lässt sich hoffentlich vermeiden. Aber die nächsten Naturkatastrophen oder Pandemien kommen leider ganz bestimmt.

Wie sieht es mit dem Personal aus?

Wir brauchen alle Organisationen: DRK und die anderen anerkannten Hilfsorganisationen, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk. Der ehrenamtliche Einsatz für unsere Gesellschaft muss aber gleichbehandelt werden. Leider gibt es einen Flickenteppich bei der Freistellung für Übungen oder Weiterbildungen, aber auch für die Einsätze selbst. Wir brauchen eine bundeseinheitliche Gleichstellung.

Wird die Wehrpflichtdebatte den Zivildienst zurückbringen?

Die sicherheitspolitische Lage spricht aus meiner Sicht dafür, dass Verpflichtungen zunehmen werden. Dann wird es auch Möglichkeiten für Wehrdienstverweigerer geben müssen. Es ist ein Erfolg, nicht zuletzt des gemeinsamen Einsatzes aller Wohlfahrtsverbände, dass die Anschreiben an junge Männer und Frauen zur Wehrerfassung auch Hinweise zu den Freiwilligendiensten enthalten werden. Die vielfältigen und bewährten Träger solcher Dienste wären durchaus in der Lage, vielen jungen Menschen entsprechende Angebote zu machen. Das könnte auch den Bevölkerungsschutz stärken.

Wie gut ist die Pandemievorbereitung?

Wir haben aus Corona viel gelernt. Das öffentliche Gesundheitswesen braucht einen weiteren Digitalisierungsschub und eine umfangreichere Bevorratung. Die nächste Pandemie kommt ganz sicher und kann doch ganz anders sein. Was aber vorbereitet werden kann, etwa im Hinblick auf Testverfahren oder die Kontaktverfolgung, sollte geschehen. Begrüßenswert ist daher, dass sich eine Enquetekommission im Bundestag mit den Lehren aus der Corona-Zeit beschäftigt.

Laut Koalitionsvertrag wird die humanitäre Hilfe gestärkt. Passiert das?

Ganz im Gegenteil. Die humanitäre Hilfe wurde im Bundeshaushalt von zwei Milliarden auf eine Milliarde Euro halbiert. Dabei steigt der Bedarf. Angesichts der dramatischen Situation in vielen Ländern und im Hinblick auf Deutschlands Wirtschaftskraft wären drei Milliarden Euro im Jahr angemessen. Bisher hilft das Deutsche Rote Kreuz in rund 50 Ländern, etwa im Sudan, wo 30 Millionen der 50 Millionen Menschen humanitäre Hilfe zum Überleben brauchen.

Wie ist die Lage in Gaza?

Ich war kürzlich in der Region, in Ramallah im Westjordanland. In der Zen­trale unserer Schwestergesellschaft, des Palästinensischen Roten Halbmonds, hängen die Fotos von 31 Helferinnen und Helfern, die im Einsatz für andere ums Leben gekommen sind. Das ist entsetzlich. Inzwischen kommen zwar wieder Hilfsgüter in den Gazastreifen, aber bei Weitem nicht genug. Zudem erschweren die umfassenden Zerstörungen die Verteilung der Hilfen. Die Menschen leben unter schrecklichen Bedingungen. Das DRK hat erst kürzlich wieder Hilfsgüter nach Gaza gebracht. Und wir stehen bereit, mehr zu tun, wenn es möglich ist.

Was bewirkt der Klimawandel?

Wir sehen mehr Hitzetote, Starkregenfälle, Überflutungen, auch in Deutschland. Klimaschutz duldet keinen Aufschub. Auch Anpassungsanstrengungen nicht, etwa durch Stadtbegrünungen oder Hitzeschutzmaßnahmen in Senioreneinrichtungen. Das DRK betreibt „Hitzebusse“, die Menschen mit Wasser und Sonnenschutzmitteln versorgen. Gerade jene, die auf der Straße leben.

Es steht eine große Klinikreform an, wie ist die Lage in Ihren Häusern?

Es geht ihnen nicht gut. Rund jedes vierte DRK-Krankenhaus musste in den vergangenen Monaten Insolvenz anmelden. Derzeit haben wir noch 30 Krankenhäuser. Sicher brauchen wir mehr Spezialisierung und Vernetzung im Krankenhausbereich. Aber wir fordern beim notwendigen Umbau der Krankenhaus­landschaft faire Bedingungen für gemeinnützige Träger, die ja keine Rücklagen bilden durften und für die kein kommunaler Träger einspringt.

Was halten Sie von Gesundheitsministerin Warkens Ideen zur Notfallreform?

Unser Rettungsdienst fährt rund 20.000 Einsätze am Tag. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Reform angeht, sehen aber Nachbesserungsbedarf. Dazu gehört eine Vorhaltefinanzierung auch für größere Schadenslagen wie Massenunfälle oder Katastrophen. Ebenso darf an der sogenannten Bereichsausnahme nicht gerüttelt werden, dass also Rettungsdienste ohne Ausschreibung beauftragt werden können, da die anerkannten Hilfsorganisationen hier vieles zusätzlich leisten. Rein kurzfristiges wirtschaftliches Denken würde uns langfristig teuer zu stehen kommen.

Wie steht es um die Pflege?

Menschenwürdige Pflege ist ein Gebot der Menschlichkeit. Aber sie kostet auch Geld. Dass die Zahlung von Tariflöhnen vorgegeben wurde, ist richtig. Sonst wäre der Personalmangel noch dramatischer. Die neuen Regelungen, die die Befugnisse unserer Pflegekräfte stärken und Bürokratie abbauen, entsprechen Forderungen aus der Praxis und sind zu begrüßen. Und wir werden unsere Erfahrungen auch in die Diskussion einbringen, wenn die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegefinanzierung ihre Vorschläge vorlegt.

Sie haben als Minister die Leistungen und Kosten ausgeweitet. Sind Sie mitverantwortlich für die Finanzmisere?

Die damalige Anerkennung dementieller Erkrankungen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit war überfällig. Aber natürlich hat die damalige wirtschaftliche Lage solche Schritte erleichtert. Ich kenne jedoch niemanden, der zurück will zu einer ausschließlichen Berücksichtigung körperlicher Beeinträchtigungen.

Das verlangt niemand, aber der von Ihnen neu eingeführte Pflegegrad eins lädt doch zu Mitnahmeeffekten geradezu ein.

Man kann darüber streiten, welche hauswirtschaftliche Unterstützung zu Beginn einer Pflegebedürftigkeit Aufgabe der Pflegeversicherung sein soll. Aber ich würde davor warnen, Menschen im Pflegegrad eins den Anspruch auf Beratung oder auf eine Unterstützung beim notwendigen Umbau des Badezimmers zu streichen. Gerade beim Einstieg in die Pflege zu Hause ist Unterstützung wichtig. Das entspricht dem Wunsch der Pflegebedürftigen, hilft den Angehörigen und kann die Notwendigkeit eines Umzugs in eine Pflegeeinrichtung zumindest verzögern.

Haben wir genügend Ersthelfer?

Leider nicht annähernd. Es gibt zwar ein erfreulich großes Interesse an unseren Erste-Hilfe-Kursen, aber noch immer wird beispielsweise bei einem Herzstillstand nur in der Hälfte der Fälle von Laien mit der Wiederbelebung gestartet. Hier könnten mit zwei Händen Tausende Menschenleben gerettet werden. Aber allzu oft führt Angst vor Fehlern zum Nichtstun. Dabei zählen die ersten Minuten. Deshalb sollten Wiederbelebungsmaßnahmen verpflichtend und regelmäßig in unseren Schulen auf dem Programm stehen. Gut, dass dies einige Bundesländer bereits machen. Besser noch wäre es, wenn alle Länder diesem Beispiel folgten.

Ehemaliger Gesundheitsminister beim DRK

Am Samstag hat die Bundesversammlung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) den CDU-Politiker Hermann Gröhe zum neuen Präsidenten gewählt. Er folgt Gerda Hasselfeldt (CSU) nach, die nach acht Jahren zur Ehrenpräsidentin ernannt wurde. Gröhe wurde 1961 in Uedem im Landkreis Kleve geboren, legte in Neuss das Abitur ab, studierte Jura in Köln und erhielt 1994 die Zulassung als Rechtsanwalt. Schon als Schüler trat er der CDU bei. In der Zeit der Wiedervereinigung 1989 bis 1994 war er Bundesvorsitzender der Jungen Union. Dem Bundestag gehörte er 31 Jahre lang bis 2025 an; bis 1998 war er Sprecher der heute bekannten Jungen Gruppe. Der Nieder­rheiner war Staatsminister bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Generalsekretär der CDU und von 2013 bis 2018 unter Merkel Gesundheitsminister. Gröhe ist evangelisch, verheiratet und Vater von vier Kindern.