Ein virtueller Heringsschwarm tummelt sich unter einer gläsernen, begehbaren Fläche, die an einen kleinen Teich erinnert. Auf mögliche Fressfeinde reagieren die animierten Fische, die im künftigen Hamburger Naturkundemuseum ihre Kreise ziehen werden, genau wie ihre biologischen Artgenossen: in einer gut koordinierten Massenbewegung weichen sie blitzschnell aus, sobald ein Museumsbesucher den künstlichen Teich betritt. Der Mensch verändert mit seiner Anwesenheit die Umwelt – diese schlichte Botschaft der Animation ist klar. Schließlich ist Eingängigkeit ein wichtiges Prinzip der multimedialen Inszenierung, die für das Naturkundemuseum alias Evolutioneum entwickelt wurde.
Noch ist der „Evo-Tower“ nicht mehr als ein Rohbau
„Wir haben das szenografische Konzept, wir haben die Inhalte. Wir haben die Forschungsinfrastruktur und wollen dazu auch das Schaufenster vor Ort haben“, sagt der Biologieprofessor Matthias Glaubrecht, der als Projektleiter Evolutioneum einen langen Atem bewiesen hat. Denn das vielversprechende Ausstellungskonzept liegt seit Jahren in der Schublade, während ergebnislos nach einem passenden Baugrund für das Museum gesucht wurde. Mitte Oktober hat sich der Senat nun gegen einen eigenen Neubau entschieden. Stattdessen wird das Evolutioneum in den Elbtower ziehen, der dank dieser Belegung bis zum Jahr 2029 fertiggestellt werden soll.
Noch befindet sich der „Evo-Tower“ (Glaubrecht) an den Elbbrücken im Rohbauzustand. Der Entwurf von David Chipperfield Architects Berlin sieht einen skulpturalen Turm auf einem abgestuften Sockel mit dreieckigem Grundriss vor. Das Museum soll auf zwölf Geschossen den Sockel bespielen, der ein Atrium einschließt. Auf 46.000 Quadratmetern, das ist knapp der Hälfte der Elbtower-Gesamtfläche, werden die Ausstellung, die naturkundlichen Sammlungen und die Forschungslabore unter einem Dach untergebracht. Das knapp 200 Meter hohe Gebäude in exponierter Lage verstärkt den angestrebten Leuchtturmcharakter des Museums, das den Biodiversitätswandel erforschen und vermitteln wird.
Der Elbtower ist nicht nur eine Landmarke
Ist das der richtige Ort? „Ich sehe den Elbtower nicht nur als Landmarke, sondern auch als Bindeglied zwischen Stadt und Natur“, erklärt Professor Glaubrecht. Im Nordwesten grenzt die Hafencity an, im Südosten liegen der Elbpark Entenwerder und die Elbinsel Kaltehofe, auf der 44 Vogelarten leben. „Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können“, so der Biologe, der mit den Museumsbesuchern auch Exkursionen in die Natur plant.
Mit der Entscheidung für das Evolutioneum im Elbtower will der Senat zwei Probleme auf einmal lösen. Mit dem Erwerb der Museumsfläche als Teileigentum für eine feste Kaufsumme von 595 Millionen Euro wird zum einen die Wiederaufnahme der seit zwei Jahren ruhenden Bauarbeiten am Elbtower ermöglicht. Grund für den Baustopp war die Insolvenz des ursprünglichen Investors René Benko. Die Stadt will die Verträge nun mit einem Konsortium um den Hamburger Investmentunternehmer Dieter Becken abschließen, der die Vollendung des Bauvorhabens plant. Laut Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) ist das Evolutioneum im Elbtower rund fünf Jahre früher realisierbar, als in einem eigens errichteten Bau – und würde zudem rund 230 Millionen Euro weniger kosten.
Architektur muss im Inneren angepasst werden
Zum anderen steht die Stadt in der Pflicht, seit sie mit dem Land Nordrhein-Westfalen 2021 einen Staatsvertrag zur Gründung des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) unterzeichnet hat. Damals wurde das Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg mit dem Bonner Leibniz-Institut Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig (ZFMK) zusammengeführt. An die Aufnahmen in die Leibniz-Gemeinschaft war die Zusage Hamburgs gebunden, ein Forschungs- und Ausstellungsgebäude zur Verfügung zu stellen. Bevor dieser Bau nun an den Elbrücken Realität wird, muss allerdings die Bürgerschaft dem Projekt noch zustimmen.
„Ich glaube, mit Chipperfield haben wir jemanden, bei dem die Museumsidee auf fruchtbaren Boden fällt“, sagt Glaubrecht. Er sei zuversichtlich, dass die gegebene Architektur im Innern des Gebäudes an das Ausstellungskonzept angepasst werden kann. Darin seien, eingebunden in die multimedialen Szenarien, auch historische Einflüsse zu finden: „Wir greifen neben den modernen gestalterischen Elementen auch Ideen aus dem alten Naturkundemuseum wieder auf“, so der Projektleiter. Das naturhistorische Museum am Steintorwall wurde während der alliierten Bombenangriffe 1943 zerstört.
Zehn Millionen Objekte in der Hamburger Sammlung
Auf den teilweise geretteten Beständen baut die Hamburger LIB-Sammlung auf, die heute zehn Millionen Objekte umfasst. Wie im kaiserzeitlichen Museumsbau sollen die Besucher auch im Evolutioneum an langen Reihen von Sammlungsschränken entlangspazieren können. Hier und da werden geöffnete Schubladen den Blick auf die naturkundlichen Schätze freigeben, die vor Ort von internationalen Wissenschaftlern erforscht werden. „Wir sind in einem Chipperfield-Bau, in einem Museum des 21. Jahrhunderts. Wir arbeiten aber mit der Vergangenheit“, erklärt der Professor.
Anhand der zoologischen, geologisch-paläontologischen und mineralogischen Sammlungen will das neue Naturkundemuseum von der Evolution erzählen – und von der Biodiversität, deren Verlust im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, zu einer Bedrohung für uns selbst geworden ist. Diese beiden großen musealen Narrative sollen sich in zwei Hauptsälen entfalten. Im Evolutions-Raum führt ein gewundener Pfad durch die biologisch-geologische Erdgeschichte, von der kosmischen Entstehung bis zum Auftritt des Menschen.
Einer der beiden Hauptsäle ist der Biodiversität gewidmet
„Mit einem Alter von 300.000 Jahren sind wir eine Eintagsfliege der Evolution, eine endliche Erscheinung“, sagt Glaubrecht. Menschliche Spuren auf dem Planeten werden im Museum ganz konkret gezeigt: An eine Nachbildung der Fußabdrücke von Laetoli, Ostafrika, die Vertreter des Australopithecus afarensis vor 3,6 Millionen Jahren hinterlassen haben, schließen sich Spuren des Homo sapiens an. Es folgen die Fußstapfen eines Schuhträgers, dann Wagen- und zuletzt Reifenspuren.
Im Saal der Biodiversität wird eine Brücke geschlagen zwischen dem modernen Raumbild – in dem auch die eingangs erwähnte Herings-Animation ihren Platz hat – und der Fülle der gesammelten Organismen, seien es Käfer oder Schmetterlinge, Regenwürmer, Fische in Alkohol oder Fossilien. „Wir sind eine Forschungsinstitution, die ihre Sammlung optisch sichtbar und erlebbar machen will“, so der Projektleiter. Weiterhin möchte das integrierte Forschungsmuseum die wissenschaftlichen Fakten so aufbereiten, dass sie nahbar und verständlich werden. Dafür wurden neue Formate der Scientific Literacy erdacht, der naturwissenschaftlichen Grundbildung.
Wissenschafts-Unterricht in „Klassenzimmern“
So sollen sich im Evolutioneum zu bestimmten Zeiten Türen zu kleinen „Klassenzimmern“ öffnen. Darin spricht dann ein Museumsmitarbeiter über spezielle Themen, wie zum Beispiel den Unterschied zwischen Hunde- und Katzenschädeln oder über die Variabilität der Augenflecken von Vogelschwingenfaltern. Ein anderes Format arbeitet mit virtuellen Forschern, die in passend inszenierten Dioramen auftreten und dort von ihren Projekten erzählen – etwa der Untersuchung von Zebrazähnen, aus deren Abriebmustern Erkenntnisse über die Nahrung der Tiere und damit auch über das Klima gewonnen werden.
Eine dritte Form der Wissensvermittlung erfolgt über Einzelobjekte, die mit einer Geschichte verbunden werden. Da ist etwa die Eisbärin „Smilla“, deren Lebensraum sich durch die globale Erwärmung verändert. Mit Blick auf das Finnwal Skelett „Finni“ wird das Thema Walfang aufgefächert. Die Biologie von Walrossen lässt sich durch das konservierte NDR-Maskottchen „Antje“ verdeutlichen. Dabei wird auch auf die Stellersche Riesenseekuh verwiesen: Bis zu seiner Zerstörung besaß das alte Hamburger Naturhistorische Museum ein Skelett der Seekuh, die kurz nach ihrer Entdeckung im 18. Jahrhundert durch exzessive Bejagung ausstarb.
Jährlich werden 500.000 Besucher erwartet
Ihr Schicksal ist nur eins von vielen Beispielen dafür, welche Rolle der Menschen als Evolutionsfaktor spielt. Im „Evo-Tower“, der jährlich 500.000 Besucher anziehen soll, wird dieses Thema erstmals museal aufgegriffen. Das Fazit lautet: Das Leben auf der Erde bildet ein komplexes Geflecht, in dem sich alle Lebewesen gegenseitig beeinflussen. „Eine Kette reißt, wenn ein Glied wegfällt“, erklärt Professor Glaubrecht: „Wenn wir Arten verlieren, schwächen wir das Netzwerk“.